Kunst hassen
was? »Um nachzuvollziehen, worum es dem Künstler geht. Oder – genauer – worum es in unseren Augen dem Künstler geht. Wir wollen vermitteln, was wir inhaltlich in dieser Arbeit sehen, und auch das, was der Künstler mit dieser Arbeit möchte. Aber bei Soma war auch für Carsten Höller klar – der Betrachter ist frei. Und wenn er sich nur an den Rentieren erfreut und sich zum Beispiel überhaupt nicht um die kulturgeschichtlichen Aspekte dieses Trankes schert, hat es auch seine Berechtigung. Da hat er gar nichts dagegen, er kommt da nicht mit dem Zeigefinger und sagt: Entschuldigung, Sie haben ja gar nichtskapiert.« Noch einmal zurück zur Ausgangsfrage der Qualität. »Ein weiteres Kriterium der Qualität war, ob wir das Werk als zeitgenössische künstlerische Produktion relevant, wegweisend und interessant finden. Ob der Künstler einen Punkt erreicht, der uns wichtig erscheint und der nicht schon zur Genüge gemacht, gesehen oder bestätigt wurde. Höller schafft eine relevante künstlerische Position im Jetzt.« Warum? »Zunächst lässt Soma in einer besonderen Weise Ausstellung und Werk in eins fallen. Und es ist eine skulpturale Installation, die in jedem Moment anders aussieht. Das gab es natürlich schon, also Lebendiges in einer Ausstellung. Man kann an Jannis Kounellis und seine Pferde aus den späten 1960 er Jahren denken. Aber Soma geht eben in den Themen, die es anstößt, über diese Grenzverwischung hinaus und verleiht einer Reihe von Fragen Ausdruck, die in der zeitgenössischen künstlerischen Praxis und für unseren Umgang mit Kunst interessant und relevant sind. Für mich ist es ein Werk, das sowohl im Herzen der Kunst, wie im Herzen des Museums angesiedelt ist. Zum einen geht es um die Unterschiede und die Unterscheidbarkeit von gewöhnlicher und ungewöhnlicher Wahrnehmung und um die Relevanz des Imaginären. Zum anderen untersucht und hinterfragt es, wie Niklas Maak darlegte, das Museum als Ort bestimmter Konventionen.
J’accuse!
Nur wenige Monate nachdem in Berlin die Ausstellung »Soma« beendet war und sich die Künstlerin Marina Abramovic in einem roten Gewand ins Museum of Modern Art setzte, schreibt der New Yorker Kunstkritiker Jerry Saltz: »J’accuse museums of bullshit! I place the beginningof the end at ›theanyspacewhatever‹ at the Guggenheim 2008 group show of ›subversive‹ critiques that remains the most indulgent act of museum masturbation I’ve ever seen – and I lived through the Thomas Krens years. This year, though, the movement went completely moribund. Take as example Marina Abramovic’s The Survival MoCa Dinner, Museum of Contemporary Art. This piece of megakitsch included naked women, suspine with skeletons atop them, on dinner tables while attendees ate. (One guest reportedly wisecracked ›full Brazilian six o’clock.‹) Shirtless male pallbearers carried shrouded bodies around. These shows serve the museums, curators, and trustees. They no longer serve art. In fact, this sensationalism implies that many museums have now fallen behind art.« Die Museen sind hinter die Kunst zurückgefallen. Welche ästhetische Erfahrung machen wir heute überhaupt in welcher ästhetischen Praxis?
Die Neue Nationalgalerie in Berlin
Szenenwechsel. Die Berliner Neue Nationalgalerie. Eingang in die obere Halle: ein leerer weiter Raum, voll verglast. Zwei Aufseher, genauso viele Besucher. Die Fenster sind von der Kälte beschlagen, rechts und links zwei Treppenabgänge, direkt dahinter jeweils zwei durch Holz eingefasste Garderoben oder etwas, das einer Garderobe ähnlich sieht. Hier steht niemand, Mäntel sind nicht zu sehen. Stattdessen kommt eine Gruppe älterer Frauen, die sich während ihrer Unterhaltung Jacken und Mützen ausziehen, um sie auf den Tresen zu legen. Über uns meterlange LED -Laufbänder, auf denen Texte von Jenny Holzer zu lesen sind: »Abuse of Power Comes as no Surprise. Governmentis a Burden on the People. Elite SelfConsciousness Leads to Perversion.« Die Presseinformation zur Installation liegt vor uns und beginnt mit den Worten: »Jenny Holzer, die im letzten Sommer 60 Jahre alt geworden ist, zählt zu den bedeutendsten Künstlerinnen der Gegenwart.« Damit hat Jenny Holzer das Alter ihrer Besucher erreicht, die gerade feststellen, dass ihnen niemand die Garderobe abnehmen wird. Liest man den Text weiter, wird einem vermittelt, dass Jenny Holzer, »die aus großem humanen Anliegen heraus handelt, vor zehn Jahren die Baukräne und Baugruben
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