Kunstgriff
Handy wieder hervor. »Kapier ich nicht! Warum rufen Sie mich an?«
Norma beendete das Klingeln. »Sie geben also zu, dass dieses Telefon Ihnen gehört?«
Er schaute sie verständnislos an. »Warum sollte ich das abstreiten?«
Sie ließ den Jungen einige Sekunden schmoren, bevor sie den Trumpf aus dem Ärmel zog, den sie den hervorragenden Beziehungen einer ehemaligen Kollegin zu verdanken hatte. Irene Maibaum war gutmütig und liebte es, Norma zu helfen. Zum Ablauf gehörte, dass Norma eine Weile bitten und betteln musste, bis Irene zur Tat schritt und die geheime Information besorgte, für die in diesem Fall der Anruf bei einem befreundeten Mitarbeiter der Wiesbadener Berufsfeuerwehr erforderlich war.
Der junge Mann hob den Kopf und blickte zur Galeristin hinüber, die wie ein Tiger im Käfig an einer Reihe Aquarelle entlangwanderte und vor einer auf einen Sockel montierten Skulptur kehrtmachte, um die Runde aufs Neue anzugehen. Bei jedem Schritt klackerten die akrobatisch hohen Absätze. Ihr blaues Leinenkleid erinnerte Norma an ein aufgeschobenes Vorhaben. Undine wirkte angespannt und zugleich erleichtert, weil sie endlich Hilfe bekam. Von dem Bild fehlte jede Spur. Niemand verlangte ein Lösegeld.
Norma hatte sich für die Mittagszeit angekündigt und um das Gespräch mit der Aushilfskraft gebeten. Nun wartete sie geduldig, bis er sie wieder ansah. Jeder Polizist setzte in einer Vernehmung auf eigene Methoden. Der frühere Kollege Milano zum Beispiel schüchterte den Beschuldigten mit ruppiger Angriffslust ein. Dirk Wolfert brillierte mit scharfzüngiger Argumentation. Sie selbst hatte die besten Ergebnisse damit erzielt, schlagkräftige Argumente in eine unbeteiligt klingende Stimme zu verpacken.
Gleichmütig erklärte sie: »Mit diesem Handy wurde der Feueralarm ausgelöst.«
»Ich war das nicht!«, rief Marco erschrocken. »Ich habe die Feuerwehr nicht angerufen.« Das Handy sei ihm am Sonntagabend gestohlen worden, behauptete er schnell.
»Wo soll das gewesen sein?«
»Im Schlachthof. Meine Gruppe hatte dort einen Auftritt.«
Norma kannte das Gelände in der Nähe des Wiesbadener Hauptbahnhofs, das zum Kulturzentrum umgestaltet worden war. »Geht es ein wenig genauer?«
»Ich hatte meinen Rucksack hinter der Bühne abgestellt, mit dem Handy im Seitenfach. Nach dem Konzert wollte ich einen Freund anrufen, aber das Handy war weg.«
»Fehlte sonst etwas?«
»Ein paar Euro aus demselben Fach. An den Rucksack konnte jeder drankommen, und es waren eine Menge Leute da.«
»Wie ich sehe, haben Sie das Telefon zurückbekommen. Wie und wann?«
»Es lag im Briefkasten, als ich am Montagnachmittag nach Hause kam. Meine Adresse steht auf dem Anhänger, sehen Sie! Ich lasse es öfter mal liegen.«
Der silberne Anhänger baumelte am Futteral, in dem das Telefon steckte. Norma betrachtete ihn aus der Entfernung. Marco wohnte in Ninas Wohngemeinschaft, hatte sie von Undine erfahren. »Welche Nummern wurden angerufen?«
»Nur die 112. Prüfen Sie das ruhig nach.« Er blickte hilfesuchend zu Undine hinüber. »Sie werden mich doch nicht anzeigen, Frau Abendstern? Bitte glauben Sie mir, ich habe mit dem verschwundenen Bild nichts zu tun. Ich bin kein Komplize von denen! Ich war die ganze Zeit bei Ihnen. Das wissen Sie doch!«
Undine antwortete nicht und befolgte wider Erwarten Normas Bitte, sich nicht unaufgefordert in das Gespräch einzumischen.
Marco schien ein intelligenter Junge zu sein und wäre kaum so dumm, einen falschen Alarm unter der eigenen Telefonnummer auszulösen. Es war offensichtlich, dass man ihn hereinlegen und den Verdacht auf ihn lenken wollte. Jemand aus seiner näheren Umgebung, der wusste, dass sein Handy gewöhnlich im Rucksack steckte und Marco montags um 13.30 Uhr Feierabend machte. Die Überstunden waren ein Glücksfall für ihn; sonst sähe es anders aus. Wie kommt es nur, dass mir sofort Undines Tochter und deren Freund einfallen?, überlegte sie sarkastisch.
»Waren Nina und Rico auf dem Konzert im Schlachthof?«
»Sie haben sich kurz blicken lassen, um mir einen Gefallen zu tun. Die beiden stehen nicht auf Jazz.«
Norma wollte sich seine Zweifel, ob sie ihm glaubte, zu Nutze machen. Vor dem Gespräch hatte sie im Internet gestöbert. Der Ethno-Jazzband, zu der außer Undines Assistent ein Ägypter, ein Marokkaner und eine bulgarische Sängerin gehörten, stand in wenigen Tagen eine Tournee durch Deutschland bevor. Vermutlich konnte die Gruppe trotzdem nicht von der Musik
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