Kunstgriff
keinen anderen Grund«, entgegnete Ehlers kühl. »Oder glaubst du, ich will mir eine weitere Abfuhr wegen der Wohnung holen? Keine Sorge, das habe ich begriffen.«
Warum bin ich enttäuscht?, fragte sie sich, irritiert über sich selbst, und bat ihn herein.
Im Büro sah er sich suchend um. »Wo steckt der Hausherr?«
»Wenn du von diesem haarigen Untier sprichst: Poldi lässt sich im Hof von der Sonne durchbrutzeln. Kaffee?«
»Bei der Hitze lieber ein Wasser.«
Er setzte sich unaufgefordert auf den Besucherstuhl. Während sie zwei Gläser füllte, spürte sie seine Blicke im Rücken. Danach verschanzte sie sich hinter dem Schreibtisch. In der folgenden Dreiviertelstunde redeten sie über seine Mandanten, die sich zuvor mit diesem Gespräch ausdrücklich einverstanden erklärt hätten, wie Ehlers versicherte. Während Norma die Ereignisse zusammenfasste, warf er präzise formulierte Fragen ein, die ihr halfen, die Gedanke zu ordnen. Als sie zum Ende kamen, war die anfängliche Verstimmung einer lebhaften Arbeitsatmosphäre gewichen.
»Gegen Daniel Götz liegt nichts vor«, erklärte er mit der Einschränkung, soweit es ihm bekannt sei. »Er hat ein Alibi. Aber das weißt du vermutlich besser als ich. Bei deinen Beziehungen zur Sonderkommission.«
Schwang darin eine Spur Neid mit? »Ich bin in den Fall verstrickt, ob ich will oder nicht«, stellte Norma klar. »Der Diebstahl und die Morde hängen zusammen. Das bezweifle ich nicht.«
»Und noch immer kein Hinweis auf das Gemälde?«
»Ich fürchte, solange der Bogenschütze nicht gefasst wird, bleibt das Bild verschollen.«
»Eine Geschichte, die der Fantasie Flügel verleiht«, sagte Ehlers mit einem Lächeln. »Wer mag dieser Täter sein? Ein im wahrsten Sinn des Wortes nach der Kunst Verrückter, der sich im finsteren Keller mit erlesenen Exponaten umgibt?«
Sie lächelte. »Das klingt wie die Vorlage für einen Film von Alfred Hitchcock.«
»Du magst seine Filme?«
»Wer liebt sie nicht?«
»Dann kannst du nicht ablehnen.«
»Was bitte?«
Er grinste. »Meine Einladung ins Caligari! Dort läuft eine Reihe mit Klassikern. Heute Abend ist ›Der Fremde im Zug‹ dran.«
Der Übermut packte sie. »Ich komme mit. Vorausgesetzt, du weißt, von wem die Romanvorlage stammt.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Das fragst du einen ausgewiesenen Experten. ›Zwei Fremde im Zug‹ erschien 1951 in den Vereinigten Staaten. Der Roman war das furiose Debüt der Patricia Highsmith.«
Er erhob sich mit zufriedener Miene und verkündete, er erwarte sie pünktlich um 19.45 Uhr vor dem Kino.
Sie blieb mit dem unbehaglichen Gefühl zurück, sich wie die Romanfigur Guy auf eine verfängliche Vereinbarung eingelassen zu haben. Nur dass es sich – in ihrem Fall – nicht um Mord, sondern um einen harmlosen Kinobesuch handelte. Und dass Eiko Ehlers nichts gemeinsam hatte mit Charles Anthony Bruno.
30
Dienstag, der 24. Juni
Der Regen hatte sich durchgesetzt. Doch nicht das Tröpfeln auf dem Dachfenster holte Norma aus dem Schlaf. Ein Traum ließ sie hochschrecken, und dazu die Nachwirkungen der quälenden Suche nach Antworten auf ein Problem, das sie im Schlaf nicht loslassen wollte.
Inzwischen hellwach, stand ihr eine Traumsequenz bildhaft wie eine Theaterszene vor Augen: Der Maler liegt auf dem Bett, den abgemagerten Kopf ins Federkissen gesenkt, mit starren Armen, die Hände von bunt fleckigen Lappen umwickelt, aus denen die Malerpinsel wie Messerklingen ragen. Fünf Frauen umringen das Lager. Das Hausmütterchen mit Kittel und Kopftuch muss Helene Nesnakomoff sein, die bescheidene Ehefrau, ehemalige Dienstmagd und die Mutter des Sohnes, dem Alexej die öffentliche Anerkennung so lange vorenthielt. Die Frau am Kopfende ist zweifelsohne Marianne Werefkin, seine erste Weggefährtin und vier Jahre ältere Freundin, wie er in Russland geboren und aufgewachsen und gesegnet mit einem begnadeten künstlerischen Talent und dem Drang, den jungen Meisterschüler zu fördern und ihr gemeinsames Kind – die Kunst – zu pflegen. Mit einem Blick bittet er sie um Verzeihung, weil er sein Versprechen brach, sie niemals zu verlassen. Ungeduldig drängt sich eine dritte Person an das Bett heran, eine stolze Frau, im Stil der 20er-Jahre gekleidet: Emilie Esther Scheyer, die sich von ganzem Herzen der Aufgabe verschrieben hat, Alexejs Bilder gemeinsam mit den Werken seiner Kollegen Lyonel Feininger, Wassily Kandinsky und Paul Klee in Europa und den Vereinigten Staaten berühmt
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