Kurbjuweit, Dirk
Topf hochnimmt.»
Inzwischen
war die Menge auf dreißig, vierzig Leute angewachsen. Es dauerte ewig, bis sich
alle hinter den Fahrzeugen versammelt hatten. Maxi stand an der Zündmaschine,
und als Esther sagte, dass alles klar sei, zog sie die Kurbel auf, zählte «drei
- zwei - eins» und löste die Zündung aus. Es gab eine enttäuschend kleine
Explosion.
«Da war
nichts», sagte Maxi, «keine Sprengladung, und wahrscheinlich waren auch keine
Nägel und Schrauben in dem Topf, höchstens Linsensuppe oder was immer die
hier kochen.»
Esther
fühlte sich schlecht, während die Kampfmittelbeseitiger ihre Sachen
einsammelten und in den Fahrzeugen verstauten. So viel Aufwand für einen
leeren Topf. Die Menge zerstreute sich, der Fahrradfahrer verschnürte die
Ziege und machte sich schaukelnd auf den Weg. Die Kinder bekamen
Kugelschreiber. Es war zu spät, um noch zur Schule zu fahren. Sie fluchte und
wunderte sich dann über sich. Wollte sie den Schuldirektor so gerne sehen?
Bei ihrem
nächsten Besuch gab es im Zimmer des Direktors nicht mehr nur einen
Ventilator, sondern zwei. Der neue Ventilator war nicht so hoch wie der andere,
er stand dort, wo Esther immer saß. «Danke», sagte sie und setzte sich. Der
Ventilator blies ihr lauwarme Luft ins Gesicht, aber auch das war eine Linderung.
«Bei uns
gibt es ein kleines Schloss», erzählte Esther. «Bis Kriegsende hat es einem
Baron gehört. Nach der Bodenreform ging er in den Westen, und sie haben sein
Gut in eine LPG verwandelt. Mein Vater arbeitete später dort. Aus dem Schloss
haben sie eine Poliklinik gemacht, aber die wurde schon in den siebziger Jahren
geschlossen. Wir haben häufig in dem leeren Schloss gespielt, es war ideal zum
Verstecken, es war auch unheimlich, weil so viele Tauben darin gurrten, und
manchmal lagen tote Vögel im Schlosshof, zwischen dem Unkraut, das dort überall
wucherte. Wir fragten uns, ob Vögel im Flug sterben und hinunterfallen oder ob
sie sich zum Sterben hinlegen wie andere Geschöpfe auch. Ich weiß es bis heute
nicht. Wissen Sie es?»
Er machte
eine Bewegung, die man als Kopfschütteln deuten konnte. Sie freute sich, dass
er so weit war, ihr gegenüber Unwissenheit andeuten zu können.
«In einem
der Räume stand ein alter gynäkologischer Stuhl, rostig, aber vollständig.»
Sie sah
ihn wieder an, sie wollte die Wirkung dieses Wortes sehen. Er blickte in seine
Kladde.
«Wenn wir
Kinder Böser König spielten, war das der Thron, obwohl es nicht würdig aussah,
auf dem gynäkologischen Stuhl zu sitzen, aber eine andere Sitzgelegenheit gab
es nicht, und der König war schließlich böse, da musste er nicht unbedingt
luxuriös sitzen. Als ich zwölf Jahre alt war, blieb ich eines Abends, als die
anderen nach Hause gingen, im Schloss. Ich will noch etwas machen, habe ich
gesagt. Ich habe gewartet, bis die anderen verschwunden waren, dann setzte ich
mich auf den gynäkologischen Stuhl. Ich lauschte, und was ich erwartet hatte,
passierte auch. Nach ein paar Minuten hörte ich Schritte im Gras. Dann war es
wieder still, bis auf das Gurren der Tauben. Draußen stand Jasper, ein Junge,
den ich mochte. Ich schloss die Augen und wusste, dass er mich ansah.»
Esther
stand auf, ging zum Fenster, sah hinaus, kein Blick zum Schuldirektor.
«Dann kam
der Baron zurück und hat sein Gut wieder übernommen. Die LPG wurde aufgelöst,
mein Vater entlassen. Wir wohnten in einer der Katen, die man für die
Mitarbeiter des Guts gebaut hatte. Es waren hübsche Häuser aus rotem Backstein
mit Reetdächern. Sobald eine Kate frei wurde, ließ sie der Baron entkernen und
sehr schön renovieren. So entstand allmählich eine Feriensiedlung. Nur noch
drei der zwölf Häuser werden heute von ehemaligen Mitarbeitern der LPG bewohnt.
Leider sieht man den Unterschied. Bei unseren Häusern glänzt der Backstein
nicht sandgestrahlt, sondern ist blass und zum Teil vermodert. Das Reetdach
sitzt nicht frisch und stramm auf dem Dach, sondern ist fransig und hängt in
der Mitte durch, als wäre es ein alter Sattel auf einem alten Gaul.
Die erste
Familie, die in einer der Katen Urlaub machte, kam aus Düsseldorf, in einem
Audi. Mein Vater, der damals arbeitslos war, stand am Fenster. Er hatte in den
Wochen zuvor immer wieder aufgezählt, warum sich Urlauber, zumal Urlauber aus
dem Westen, hier nicht wohl fühlen konnten: der Lärm der Landwirtschaft,
unzuverlässiges Wetter, schlechter Handyempfang. Das Projekt müsse scheitern.
Aber es scheiterte nicht. Die
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