Kurbjuweit, Dirk
Ina.
Als Esther
wieder beim Schuldirektor war, erzählte sie ihm von dem Wal. Am Donnerstag
darauf sagte sie: «Als ich ein Kind war und die DDR noch lebte, reiste meine
Mutter für eine Woche in den Westen, nach San Francisco, wo eine wichtige Konferenz
für Meeresbiologen stattfand. Nach ihrer Rückkehr erzählte sie oft von San
Francisco. Jedes Mal begann sie damit, dass es dort eine fürchterliche
Kriminalität gebe und eine schreckliche Armut, vor allem unter den Schwarzen,
dann aber schwärmte meine Mutter von der Bay und der Golden Gate Bridge und den
steilen Straßen, die sie stundenlang auf und ab gegangen ist. So schöne Häuser,
hat sie gesagt. Obwohl ich höchstens acht war, bemerkte ich eine gewisse
Spannung am Tisch. Mein Vater sagte, dass Reagan ein schlimmer Kriegstreiber
sei. Erst später, in der Erinnerung, habe ich verstanden, was die beiden da
miteinander austrugen. Meine Mutter hat hin und wieder von der Freiheit der
Fische gesprochen, keine Grenzen, keine Mauern, stattdessen die endlose Weite
der Meere. Mein Vater war in der Partei, ihm konnte das nicht gefallen, aber er
hat ihr auch nie widersprochen, tat so, als hätte meine Mutter wirklich die
Fische gemeint, als hätte sie von der Freiheit der Fische geschwärmt, weil sie
Fische so mag. Die DDR war damit nicht angegriffen, das hatte er für sich so
entschieden. Wussten Sie, dass Schweigen eine Familie retten kann, dass
Schweigen manchmal sehr nützlich ist? Klar, wissen Sie das.»
Sie sah
Mehsud wieder an. Ein kleines Lächeln schimmerte in seinen Augen auf. Esther
war überrascht, wie sehr sie das freute.
«Ende der
neunziger fahre kam meine Mutter auf die Idee, sich ihre Stasi-Akte
anzuschauen. Ich weiß nicht, warum. Ihr war nie etwas Böses passiert. Ich
wollte nicht, dass sie das tut, ich hatte Angst, mein Vater könne dort als
Informant auftauchen. Ich hatte von solchen Fällen gehört, und was kann
schlimmer sein als die nachträgliche Zerstörung ganzer Leben, die Erkenntnis,
dass alles eine Lüge war? Ich fieberte dem Tag entgegen, an dem meine Mutter
die Akte einsehen würde, und gleichzeitig wünschte ich mir ein Ereignis
herbei, das diesen Termin verhindern konnte, aber natürlich durfte es nichts
sein, was schlimm gewesen wäre für meine Mutter, eine Krankheit, ein Unfall
oder so etwas. Ich wohnte noch zu Hause und beobachtete heimlich meinen Vater,
ob er nervöser war als sonst, aber er war wie immer, las kopfschüttelnd die
Tageszeitung und kümmerte sich um den Garten, damals sein Programm gegen die
Leere, gegen die Arbeitslosigkeit. Als meine Mutter von der Akteneinsicht
heimkam, war sie wütend und empört, aber das bezog sich auf einen Kollegen,
der über sie berichtet hatte. Meinen Vater erwähnte sie nicht. Und Papa?, hätte
ich gerne gefragt, aber das ging natürlich nicht. Da sich die Ehe meiner Eltern
in den nächsten Tagen und Wochen nicht eintrübte, sah ich mich darin bestätigt,
dass mein Vater einfach nicht den Charakter hat, so etwas zu tun. Warum hatte
ich dann nur diese Ängste ausgestanden? Zum ersten Mal spürte ich so etwas wie
Hass gegen die DDR. Was war das für ein System, dass es mich in solche Zweifel
stürzen konnte?»
Sie stand
auf, sagte: «Auf Wiedersehen.» Der Schuldirektor nickte. Sein rechter Arm
hatte auf dem Schreibtisch gelegen, von dort löste er sich und stieg langsam auf,
die Faust öffnete sich dabei, Esther sah die Handfläche, eine Bewegung, die
sie als leichtes Winken deutete, dann sank der Arm zurück auf den Tisch. Sie
ging hinaus.
Marios
Mittelohrentzündung klang ab, erfuhr sie am Abend. Dem Oberfeldwebel hatten sie
zwanzig Zentimeter des Darms rausschneiden müssen. Aber das sei okay, sagte
Ina, mit zwanzig Zentimetern weniger könne man leben. Der Hauptgefreite, bei
dem sich der Schuss gelöst hatte, sollte zurück nach Deutschland, musste aber
bleiben, weil die Presse von dem Vorfall erfahren hatte. Esther kannte ihn
nicht, Ina erzählte, dass er eigentlich ein guter Soldat sei. Er traue sich
nicht mehr aus seiner Stube, unablässig würden Witze über ihn gemacht. Andere
waren böse, weil sie es für eine Blamage hielten, dass einer der seltenen
Schüsse der Bundeswehr in Kunduz ausgerechnet den Rücken eines Kameraden
getroffen hat. Kopfschütteln im Lummerland. Hornochse, Idiot. Bringt den ganzen
Laden in Verruf. Esther war unter den Ersten, die rausmussten auf die Schießbahn,
um noch einmal über den Umgang mit einer scharfen Waffe belehrt zu werden.
Danach
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