Kurbjuweit, Dirk
geschrien?»
«Ich weiß
nicht.»
«Wann?»
«Als die
Rakete einschlug.»
«Hoffentlich
lassen sie mich raus», sagte Ina.
«Wohin
willst du?»
«Ich muss
nach Hause. Mario hat einem Jungen im Kindergarten eine Holzschiene auf den
Kopf gehauen.»
«Was?»
«Mario hat
einem Jungen im Kindergarten eine Holzschiene auf den Kopf gehauen, wie Jungs
eben so sind, nicht feste, aber jetzt machen die Eltern von dem anderen Jungen
einen Riesenaufstand.» Sie erzählte, dass die Kindergärtnerinnen ein Gespräch
mit Marios Eltern, also Robert und ihr, führen wollten. Dabei wüssten sie
genau, dass Ina in Kunduz sei. Mit Robert wollten sie sich nicht zufriedengeben.
Ina war allerdings auch dagegen, dass Robert dieses Gespräch alleine führt,
weil er ein bisschen weich sei, wie sie nicht zum ersten Mal zu Esther und Maxi
sagte, er gebe schnell nach, und das müsse hier überhaupt nicht sein. Sie
könne sich nicht vorstellen, dass Mario dem anderen Jungen die Holzschiene
einfach so über den Kopf gehauen habe. Das sei nicht seine Art, gar nicht.
Wahrscheinlich habe der andere Junge etwas Böses gesagt. Deshalb gebe es keinen
Grund, sich sofort zu entschuldigen oder gar Mario aufzufordern, sich zu
entschuldigen.
«Wahrscheinlich
passt den Eltern der Einsatz in Afghanistan nicht», sagte Ina, «die sind
wahrscheinlich Pazifisten und wollen jetzt klarstellen, wohin das führt, wenn
die Bundeswehr ihre Kasernen verlässt. Wenn die Mutter Soldatin ist und in
Afghanistan Krieg führt, dann kann der Junge ja gar nicht anders, als brutal zu
werden. Von der Holzschiene führt ein direkter Weg zum Massaker an
Unschuldigen, denken die wahrscheinlich. Die wissen doch gar nicht, was hier los
ist. Die denken, wir schlachten hier heimlich Leute ab. Womöglich wollen die
ein Exempel statuieren gegen den Militarismus oder so etwas, und Mario muss das
jetzt ausbaden.»
«Woher
weißt du, dass die Leute gegen den Einsatz in Afghanistan sind?», fragte Maxi.
«Alle sind
doch gegen den Einsatz», sagte Ina.
«Schick
ihnen eine Mörsergranate aufs Dach», sagte Maxi.
«Eine RPG
in den Kombi», sagte Esther.
«Dauerfeuer
mit dem schweren Maschinengewehr», sagte Ina.
«Es ist
ganz still», sagte Maxi.
«So still
war es noch nie», sagte Esther.
«Man hört
sogar Fatimas Atem», sagte Maxi.
Nach einer
guten Stunde wurde der Alarm aufgehoben. Am nächsten Tag herrschte eine andere
Stimmung im Lager, eine bessere, fand Esther. Auch sie war noch vor dem
Frühstück zu der Stelle gelaufen, wo die Rakete eingeschlagen war. Sie sah
einen kleinen Krater und ein paar dunkle Flecken. Ein Obergefreiter war
verletzt worden. Dazu gab es mehrere Gerüchte: Ein Splitter habe die
Hauptschlagader im rechten Bein getroffen, der Mann sei fast verblutet, nun
aber in einem stabilen Zustand. Hunderte Splitter hätten das linke Bein in
einen Schwamm verwandelt, die Ärzte hätten es abnehmen müssen. Ein Splitter
habe ihm ein Knie zertrümmert, das Bein insgesamt sei aber gerettet worden.
Beim
Mittagessen erfuhr Esther von Ina, dass der Obergefreite vier Splitter im
rechten Oberschenkel hatte. Er habe viel Blut verloren, aber nicht bedrohlich
viel. Zwei Wunden hätten die Ärzte getackert, die beiden anderen seien so groß
gewesen, dass sie nähen mussten. Der Obergefreite liege noch auf der
Rettungsstation, er sei ganz süß.
Was Esther
an der neuen Stimmung mochte, war das Schlanke, Reduzierte. Jeder machte seine
Aufgaben ohne Schnörkel, ohne Gelaber, konzentrierte Arbeit am Projekt, das
jetzt ein gemeinsames war. Nun hatten auch die anderen eine Bedrohung erlebt,
sie fühlte sich vereint mit ihnen. Sie löste sich aus ihrer Vereisung, merkte
bald, dass sie ein bisschen eifrig wurde in dem, was sie tat, und musste
lächeln. Alles hatte einen neuen Sinn, weil sich ein Feind gezeigt hatte. Ein
Feind machte jeden Handgriff zur Wehrtat.
Esthers
Hochstimmung legte sich erst, als sie am nächsten Tag erfuhr, dass sie nicht
zur Schule aufbrechen durfte. Es galt nun eine höhere Alarmstufe, und nur noch
wirklich notwendige Fahrten waren erlaubt. Aber es sei wirklich notwendig, zur
Schule zu fahren, die Mädchen seien sonst nicht sicher. Bedauerndes Achselzucken.
Sie war niedergeschlagen. Ihr war selbst klar, dass sie nicht nur wegen der
Mädchen litt. Die Mädchen gingen seit Wochen unbehelligt zur Schule. Sie war
niedergeschlagen, weil sie Mehsud nicht sehen konnte. Das war es. Das war es
zum Teil, sagte sie sich. Das und die Mädchen. So.
Der
Swimmingpool
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