Kurbjuweit, Dirk
nicht raus.»
«Ich habe
davon gehört», sagte er.
Wie hatte
er davon gehört? Sie hatte sich schon einmal darüber gewundert, wie gut er über
das informiert war, was im Lager passierte. Sie schwitzte, unter der Schutzweste
schwitzte sie immer entsetzlich, trotz des Ventilators. «Gab es Tote?»
«Einer
wurde am Bein verletzt, nicht schlimm.»
«Die
Raketen taugen nichts.»
Warum
sagte er das so? Es konnte eine neutrale Bemerkung sein. Es konnte auch ein
Bedauern ausdrücken. «Zum Glück», sagte er. «Zum Glück was?»
«Taugen
die Raketen nichts.»
«Zum
Glück, ja.»
Er
schenkte ihr Tee ein. Sie setzte sich auf den Boden, näher zu ihm. «Suchst du
noch immer nach deiner Familie?», fragte sie.
«Was heißt
suchen? Ich wiederhole regelmäßig meine Anfragen bei den Suchdiensten, ich
bezahle einen Polizeizeichner in Kabul dafür, dass er mir alle zwei Jahre
Porträts von meiner Frau und meiner Tochter zeichnet. Ich hatte sie ihm nach
meiner Rückkehr nach Kabul beschrieben. Alle zwei Jahre macht er sie älter.»
Er zog zwei Blätter aus einer Schublade. «So könnten sie jetzt aussehen.» Er
reichte Esther die Blätter. Sie zeigten eine mittelalte Frau und einen
Teenager, die sich stark ähnelten. Ihre Gesichter waren leidvoll, als habe der
Zeichner darstellen wollen, dass es ihnen schlechtgeht. Kluge Gesichter, fand
Esther.
«Ich stelle
mir oft vor, was sie jetzt machen», sagte Mehsud. «Es sind nicht nur schlimme
Vorstellungen. Die gibt es auch, Sklaverei, ein Bordell in Rawalpindi, ein
Harem, das liegt nahe. Aber es gibt auch die Vorstellung, dass sie glücklich
sind. Sie leben in Miami in einer schönen Wohnung, meine Frau unterrichtet an
einem College, sie ist erfolgreich, beliebt, meine Tochter besucht eine gute
Schule und hat nette Freundinnen. Ich stelle mir ein Jugendzimmer vor mit
vielen Kuscheltieren und Postern von Popstars, von denen ich nie gehört habe.
Nein, Kuscheltiere hat man nicht mehr mit achtzehn, oder?»
«Ein paar
vielleicht noch.»
Er nahm
Esther die Blätter aus der Hand und betrachtete sie. «Natürlich gibt es einen
Mann, Professor, Leiter eines Think Tanks, Gutverdiener. Ein kluger, zuverlässiger
Mann. Es gibt ein zweites Kinderzimmer, Bauklötze, eine Eisenbahn aus Holz,
vielleicht einen kleinen Baseballhandschuh. Der Junge ist fünf oder sechs
Jahre alt, er hat das schwarze Haar seiner Mutter. Was meinst du, welche
Vorstellung schlimmer ist? Das Bordell in Rawalpindi oder die Wohnung in
Miami?»
«Das
Bordell.»
«Du hast
recht. Das Bordell ist schlimmer. Aber würdest du es mir übelnehmen, wenn ich
sagte, dass mich auch die Wohnung nicht glücklich macht?» Er wartete auf eine
Antwort.
«Ich
verstehe das gut.» Es war eine Antwort, zu der es keine Alternative gab.
«Ich habe
mich nicht nur gefragt, ob ich meine Frau insgeheim habe loswerden wollen. Ich
habe mich auch gefragt, ob meine Frau mich hat loswerden wollen. Ob sie die
Chance genutzt hat, sich in ein anderes Flüchtlingslager bringen zu lassen.»
«Aber dann
wären die anderen Frauen, die auf dem Pick-up waren, aufgetaucht.»
«Vielleicht.
Vielleicht nicht. Wenn man sich neun Jahre lang über eine Sache den Kopf zerbricht,
fallen einem für jedes Szenario plausible Gründe ein. Das kann ich dir
versichern. Ich habe mich so lange in schlechtes Licht gestellt, bis ich
überzeugt war, dass meine Frau gar nicht anders konnte, als mich zu verlassen
und ein anderes Leben in Miami zu suchen. Wenn du findest, dass ich ein
hässlicher und niederträchtiger Kerl ohne einen Funken Verstand bin, dann ist
das ein geschöntes Bild - jedenfalls im Vergleich zu dem, welches ich mir
selbst von mir gemacht habe. Ich sage dir noch etwas, und dann höre ich auf,
versprochen. Weißt du, was mich manchmal trösten kann? Der Tod. Dass sie
gleich gestorben sind, bei einem Unfall oder durch eine Kugel, ohne Leid. Ich
stelle mir den Tod meiner Liebsten vor und bin getröstet, kannst du dir das
vorstellen?»
Sie wusste
es nicht, sie wollte, dass er aufhört, sie diese Dinge zu fragen.
«Du kannst
es nicht. Sobald sich dieser Trost einstellt, rufe ich mir zu: Miami, Miami!
Miami soll dich trösten. Manchmal funktioniert es, manchmal nicht. Das ist die
Geschichte, mehr kann ich nicht sagen.»
Als sie
nach ihrer Rückkehr ins Lager ihre Mutter anrief, sagte sie nichts von Mehsud.
Sie fragte nach ihrem Vater und konnte die Nachricht, die sie bekam, kaum
ertragen. Das Geschäft mit den Swimmingpools war auf null geschrumpft,
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