Kurbjuweit, Dirk
schneller Blick auf den Wetterbericht, Sonne,
maximal einundvierzig Grad Celsius. Sie meldete sich ab.
Bei den
Wölfen warteten Tauber und zwei Infanteristen, die Esther nicht kannte,
weshalb sie die beiden ausführlich einwies. Sie breitete die Straßenkarte auf
der Kühlerhaube aus, erläuterte den Weg und den Auftrag. Sie merkte den beiden
an, dass sie es nicht gewohnt waren, einer Frau unterstellt zu sein. Sie
merkte das immer. Ein Vorhang vor dem Gesicht, kein Augenkontakt, ein Hauch von
Ironie in der Miene, als sei dies nicht die Realität, sondern eine Komödie,
der man sich großzügigerweise nicht verschließen will, Herablassung. Wenn Esther
diese Gesichter sah, dachte sie immer, wenn sie Mut hätten, würden sie jetzt
Schätzchen zu ihr sagen. Aber den Mut hatten sie nicht. Ein Blick auf das
Namensschild des einen, dann schnarrte ihre Stimme: «Hauptfeldwebel Löthling,
da ist Staub auf Ihrer Waffe.»
«Hier ist
halt überall Staub.»
«Leutnant
Dieffenbach!», sagte sie scharf.
«Leutnant
Dieffenbach!», sagte er.
«Was
wollten Sie sagen?»
«Hier ist
überall Staub, Leutnant Dieffenbach.»
«Ich weiß,
dass hier überall Staub ist.» Er sah sie ratlos an.
«Das heißt
nicht, dass auf Ihrer Waffe auch Staub sein darf, nicht am frühen Morgen.»
«Entschuldigung,
Leutnant Dieffenbach.» Er kramte ein Tuch aus der Brusttasche seiner
Schutzweste und wischte damit über den Lauf des Gewehres. Er war nervös, seine
Hände zitterten. Als er fertig war, verstaute er das Tuch wieder in der
Schutzweste. Dann stand er da und schaute trotzig, ein großer Kerl, Glatze,
breite Brust, dicke Arme und Beine.
«Melde
gehorsamst, die Waffe ist staubfrei, Leutnant Dieffenbach.»
«Danke,
Hauptfeldwebel Löthling.» Sie erklärte den Auftrag und befahl aufzusitzen.
«So streng
heute», sagte Tauber, als er den Motor startete.
Gerade
heute, heute unbedingt, dachte Esther.
Ein kurzes
Winken am Tor, sie passierten die gefüllten Tonnen und bogen nach rechts auf
die Straße nach Kunduz. Der wahre Auftrag heißt anders, dachte Esther, der
wahre Auftrag heißt: Leutnant Dieffenbach küsst den Schuldirektor. Darum geht
es heute.
Sie würde
es wagen, das war gewiss. Vier Monate ihrer Dienstzeit in Afghanistan waren
abgelaufen, sie konnte nicht warten. Aber nie hatte ihr etwas mehr Angst gemacht
als dieses Vorhaben. Mehsuds Frau wurde seit langem vermisst, eine andere hatte
er nie erwähnt. Zwei Ziegen hatte er und viele Bücher, kein aufregendes Leben.
Er war frei für einen Kuss, da war sie sich sicher. Aber wie sollte sie es
anstellen? In ihren schlimmsten Phantasien begriff er gar nicht, was sie von
ihm wollte, weil sie nicht wusste, ob Afghanen so küssen wie Europäer oder
Amerikaner. Hier sah man ja nie Afghanen küssen. Am Ende hatten sie etwas
Eigenes entwickelt wie die Eskimos. Unwahrscheinlich allerdings, davon hätte
sie gehört. Aber darf eine Frau in Afghanistan den Kuss suchen? In diesem Punkt
sind sie ja so empfindlich. Muss also der Mann die Initiative ergreifen,
gleichsam naturgesetzlich? Was, wenn der Mann die Initiative nicht ergreift,
weil er denkt, dass es unmöglich ist, eine deutsche Soldatin zu küssen? Dass
Mehsud sie mochte, daran hatte Esther keinen Zweifel, und vom Mögen zum
Begehren ist es kein so großer Schritt bei Männern, ob Afghanen oder nicht. Das
war nun wirklich Naturgesetz. Sie, dachte Esther, musste ihm genauso fremd
vorkommen wie er ihr, vielleicht noch fremder. Uniform und Gewehr, unter
Weiblichkeit stellte er sich sicher etwas anderes vor, wie die deutschen Männer
auch, aber die waren schon ein bisschen daran gewöhnt, jedenfalls die im Lager.
Sie suchte
ein Bild, ein Szenario, sie wollte es so machen, wie Thilo es macht. Ein Bild
entstehen lassen und nachleben. In den vergangenen Tagen hatte sie viel daran
gedacht. Das Erste, was ihr in den Sinn gekommen war, war ein Spaziergang. Sie
ging mit ihm spazieren, und irgendwo, in einem Obsthain vielleicht, würde sie
ihn küssen. Aber das Bild funktionierte nicht richtig. Sie war darin immer
ohne Gewehr, und das war unrealistisch. Dabei ging es hier nur um realistische
Bilder, das war ja der Punkt, die Möglichkeit, diese Bilder zu leben. Es war
undenkbar, dass sie einen Spaziergang ohne Gewehr machte, das verstieß gegen
die durchaus sinnvolle Dienstvorschrift. Damit war aber auch die Romantik
zerstört. Üblicherweise trug sie das Gewehr an der Seite, da störte es einen
Kuss. Sie konnte es zwar über den Rücken hängen, das
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