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Kurbjuweit, Dirk

Kurbjuweit, Dirk

Titel: Kurbjuweit, Dirk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kriegsbraut
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war praktikabel, aber irgendwie
konnte sie sich nicht vorstellen, mit Gewehr im Rücken zu küssen. Wo sollte
Mehsud dann seine Hände hintun? Gleich auf ihren Hintern? Nein. So dreist war
er nicht. Verzweifelt hatte sie nach einem Bild gesucht, in dem Männer mit
Gewehren Frauen küssen. Sie wollte sogar Thilo anrufen, weil ihr nichts
einfiel. In den Kriegsfilmen, die sie kannte, wurde eher vergewaltigt als
geküsst, und wenn geküsst wurde, dann nicht im Einsatz, also ohne Gewehr.
Jedenfalls nicht bei Spaziergängen. Es war Zeit für eine neue Generation von
Kriegsfilmen, mit Frauen in der Hauptrolle. Andererseits sollten die dann
lieber nicht küssen, um nicht gleich wieder falsche Vorstellungen von
Soldatinnen zu wecken. Aber sie wollte doch auch küssen als Soldatin. Es war
schwierig, es war sehr schwierig. Wenn sie die Männer so sah im Lager, dann
waren die viel versessener aufs Küssen als die Frauen, wobei die Männer ja nie
nur küssen konnten. Und über Soldaten, die ihren Kameradinnen nachstellten,
gab es keinen Film. Warum eigentlich nicht? Sie hätte gerne Thilo bei sich
gehabt, der konnte Geschichten erfinden, der hätte ihr ein Szenario entworfen,
dem sie hätte folgen können. Allerdings hatte ihr diese Stärke von Thilo immer
Angst gemacht. Vielleicht war sie nur die Darstellerin in einem Film, den er
sich ausgedacht hatte und den er mit ihr nachleben wollte, bis er in die
Realität zurückkehrte. Und sie blieb zurück in dem Film, gefangen, womöglich
auf ewig. Dabei hätte sie doch so gerne Wirklichkeit mit Thilo gehabt, nichts
lieber als Wirklichkeit. Den Spaziergang mit Mehsud verwarf sie. Nie hatte sie
in diesem Land Mann und Frau gemeinsam spazieren gehen sehen, das war der
nächste Grund, der dieses Szenario unvorstellbar machte.
    Der Himmel
war milchig heute, helles Blau mit weißen Schlieren; die Berge gingen diffus
in den Himmel über. Der deutsche Konvoi überholte einige Kleinbusse, auf deren
Dächern Männer hockten, ausdruckslose Gesichter, gleich würden sie den Staub
der Wölfe schlucken. Stille in den Dörfern und Städtchen. In der Schlucht hatte
Esther plötzlich den Wunsch, ein paar Taliban würden hinter den Felsen
hervorspringen und herumschießen, ein kleines Gefecht, bei dem alle Gegner ihr
Leben ließen, keine Opfer auf deutscher Seite, nur ein Streifschuss am Hals von
Hauptfeldwebel Löthling, harmlos, aber schmerzhaft. Es wäre danach unverantwortlich
gewesen weiterzufahren. Ihr Auftrag wäre beendet, einen Kuss würde es nicht
geben. Aber es kamen keine Taliban, Stille in der Schlucht. Am Wasserfall
blendete der Wolf der Infanteristen auf, sie hielten, um zu pinkeln, aber
vorher wollten sie sich vor dem Wasserfall fotografieren lassen. Sie stellten
sich nebeneinander, legten einen Arm um die Schulter des anderen und lächelten
stolz, als seien sie die Besitzer des Landes. Löthling zog sich danach hinter
einen Felsen zurück. Esther saß schon wieder im Auto, als sie einen Schrei
hörte. Sie packte ihr Gewehr, sprang raus und folgte den anderen, die schon
fast bei dem Felsen waren. Sie lief um den Felsen und sah Löthling im Sand
hocken. Er hatte einen Totenschädel in der Hand, ringsum lagen ein halbes Dutzend
Totenschädel und Knochen. «Menschen», sagte Löthling. Jeder nahm einen
Totenschädel in die Hand, auch Esther. Er kam ihr klein vor, keine Zähne. Sie
rätselten, warum die Knochen hier lagen, ob es ein Gefecht gegeben hatte,
vielleicht im Krieg gegen die Russen, oder ob es ein Friedhof für Ausgestoßene
war. Jeder hatte einen Vorschlag, und so redeten sie eine Weile. Die beiden
Infanteristen wollten die Schädel mitnehmen, aber Esther untersagte das.
Vielleicht war es wirklich ein Friedhof oder sonst was Heiliges. Sie wusste
nicht, wie Muslime zu menschlichen Skeletten standen, es war aber immer
besser, vorsichtig zu sein. Sie gingen zurück und sahen, dass zwei Kinder neben
den Wölfen standen, ein Junge und ein Mädchen, vielleicht sieben und neun Jahre
alt. Esther sprach sie auf Russisch, Englisch und Deutsch an, aber sie
reagierten nicht. Sie starrten stumm auf die deutschen Soldaten. Sie gab ihnen
Stifte und zwei Einmannpackungen «Italienisches Nudelgericht». Die Kinder
nahmen das an, ohne eine Regung, ohne ein Wort. Esther befahl Aufsitzen, und
sie fuhren davon.
    Danach
dachte sie an die Totenschädel und nicht an den Kuss. Ob sie das melden musste?
Lieber nicht, alles, was auf ihrer Tour nach Gewalt, nach Bedrohung aussah,
behielt sie lieber für

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