Kurbjuweit, Dirk
würde und ihr eine Steinigung bevorstand. Kein IED auf der Rückfahrt,
wenn die Entdeckung ausbleiben würde. Es war anstrengend und kompliziert, die
Zukunft zu sortieren. Warum sollte der Ehebruch, wenn es einer war, überhaupt
nachträglich entdeckt werden können? Weil Mehsud sich verplapperte? Aufhören,
aufhören.
Vor der
Schule machte Esther sich schön, ein Blick zum Dorf, ein Blick zum Drachen. Er
hatte nichts von seiner Freundlichkeit verloren. Sie gab Tauber «Alexander»,
das würde ihn und die Infanteristen lange genug fesseln.
Mehsud
wartete unten an der Treppe auf sie. Er nahm ihre Hand und führte sie ins
oberste Stockwerk und dort ins hinterste Klassenzimmer auf der Seite, die vom
Dorf abgewandt war, zum Drachen hin. Er hatte Tische und Stühle
zusammengeschoben und so in einer Ecke Platz geschaffen für ein Lager, dort
lagen Decken, braune Decken mit einem roten Kreuz auf weißem Grund. Sie
stellte ihr Gewehr ab. Er begann damit, die Klettverschlüsse ihrer Schutzweste
zu öffnen, zunächst zaghaft, aber so ging es nicht, man musste reißen. Sie riss
für ihn.
Das gab
jedes Mal ein hässliches Geräusch, als würde die Stille ebenfalls reißen und
verletzt werden. Sie musste weg von diesen Gedanken. Wenn sie dabei blieb,
alles wahrzunehmen, was nicht so war, wie es sein musste, um romantisch zu
sein, würde sie diese Stunde verderben. Sie ließ die Schutzweste fallen,
setzte sich auf einen Stuhl und zog ihre Stiefel aus. Ein Blick zu ihm, Verlegenheit,
Freude. Sie legte die Pistole ab.
Sie
küssten sich auf den Rotkreuzdecken, eng umschlungen. Esther ging verloren in
diesem Kuss, die Welt kam ihr abhanden, sie kam der Welt abhanden, es gab nur
diesen Kuss, und in dem Kuss waren Mehsud und sie in einer eigenen Welt, einem
Ozean eher. Sie fühlte sich ozeanisch geküsst. Als sie einmal die Augen öffnete,
sah sie, dass Antipersonenminen, die wie Schmetterlinge aussahen, an die Tafel
gemalt waren; die Kinder lernten also nützliche Dinge hier, dann versank sie
wieder, aber nicht lange, und ihr fiel ein, dass es eine Zeit gab, Uhren.
Uhren waren hier immer gegen sie gewesen, Feinde, grauenhaft mächtig. Sie sah
auf die Armbanduhr, es waren schon fünfundzwanzig Minuten vergangen. Von
sechzig, höchstens siebzig. Dann würden sie kommen. Mehsuds Hand war unter
ihrem olivgrünen T-Shirt, streichelte ihre Haut. Er zog das T-Shirt hoch, bis
zu ihren Brüsten, seine Hand lag auf ihrem Bauch, reglos. Sie genoss das, bis
ihr die Zeit wieder einfiel. Sie wollte Erlösung, und so würden sie dahin
nicht kommen. Er zog das T-Shirt wieder hinunter.
«Nein»,
sagte sie.
Er sah sie
an, verständnislos.
«Njet»,
sagte sie und schob das T-Shirt wieder nach oben.
Er war zu
langsam für diese Stunde, und sie verlor den Genuss, weil sie ständig innerlich
gegen die Zeit fluchte. Über Monate hatte ihr Feind sie mit seiner Trägheit
gequält, mit Sekunden, die sich anfühlten wie Minuten, Minuten, die eher
Stunden waren. Und jetzt raste die Zeit dahin, als würden sich die Zeiger aller
Uhren in olympischen Wettkämpfen messen. Sie war wütend, auch auf Mehsud, weil
der nicht vorankam, und nach fünfundsechzig Minuten richtete sie sich abrupt
auf, zog ihren BH an, so weit waren sie immerhin schon, und streifte ihr
T-Shirt über. Beklommene Stille. Er stand auf, zog seine Hose an, sie musste
das nicht. Socken, Stiefel, Jacke, Pistole, Schutzweste, Gewehr. Dann stand
sie ihm gegenüber, gepanzert, bewaffnet. Er sah sie traurig an, ratlos. Sie
legte das Gewehr weg und umarmte ihn, was mit der Schutzweste eher eine
Umklammerung war. «Es war schön», sagte sie.
«Nur zu
kurz», sagte er.
Ein
schneller Kuss, sie ging. Nach siebzig Minuten war sie bei den Wölfen.
Am
nächsten Tag war Esther so zerstreut, dass sie einen Fehler machte, der die
SatCom-Anlage des Lagers für zwanzig Minuten lahmlegte. Sie wurde angeblafft,
hörte aber kaum zu. Sie wühlte nach einer Idee, die sie mit Mehsud
zusammenführen konnte. Gleichzeitig war sie beschämt, dass das, was sie sich
vorgenommen hatte, nicht gelungen war. Dreiste Taten finden ihre Rechtfertigung
nur durch das Gelingen, und dieses Stelldichein war nicht gelungen, auch wenn
sie die ersten zwanzig Minuten genossen hatte. Wann würde es eine neue Gelegenheit
geben? Ein bisschen schämte sie sich für ihre Gier, und dann fand sie es wieder
schön, so empfinden zu können.
Beim
folgenden Treffen fragte sie Mehsud, ob es nicht doch möglich war, sich in
seinem Haus zu
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