Kurbjuweit, Dirk
bei ihnen sein könne. Der
Kommandeur ließ sich noch einmal die Lage beschreiben, und Esther schilderte
alles so, wie sie es zuvor schon getan hatte. Eine Weile hörte sie nichts,
dann fragte der Kommandeur, wie sie ihre Lage einschätze. Sie sagte, dass zwei
Soldaten tot seien und einer nicht kämpfen könne. Sie könnten ihre Position
nicht verändern, und zwei Stunden seien eine lange Zeit. «Ich werde dafür
sorgen, dass Ihnen nichts geschieht», sagte der Kommandeur, und Esther fand,
dass seine Stimme fürsorglich klang, fast mütterlich. Sie fragte sich kurz, ob
das bei einem Mann auch so sein würde, aber dann fielen wieder Schüsse, und sie
verlor den Gedanken. Als das Feuer abklang, hörte sie wieder den Kommandeur.
Er sagte, dass zwei Apache in ihrer Nähe seien, amerikanische Hubschrauber. Sie
würden in sieben Minuten eintreffen. Bis dahin sollten sie die Position halten.
Sie warf Tauber das Telefon zu, nahm das Gewehr und schoss auf den Hof, obwohl
sie nicht wusste, ob das sinnvoll war, aber sie musste etwas tun. Sie sah nur
eine Mauer, und die traf sie auch, Staubwölkchen stiegen auf. Menschen sah sie
nicht. Das Feuer schwoll erneut an, dann war es still. Ich habe keine Angst,
dachte sie.
Sechs
Minuten. Sie sah auf die Uhr, dachte daran, was alles passieren konnte, bis die
Hubschrauber eintreffen würden. Hatten die Taliban RPGs, Panzerfäuste, könnten
sie ihren Wolf in die Luft sprengen, und es gäbe nicht zwei tote Deutsche,
sondern vier. Andererseits hätten sie schon längst damit feuern können.
Unwahrscheinlich also, dass sie RPGs hatten. Die Taliban konnten einen
Ausfall machen, aber dann mussten sie mit Toten rechnen. Das würden sie nur in
Kauf nehmen, wenn sie genug waren, um ein paar Mann durchzubringen, die den
Deutschen im Nahkampf den Garaus machen konnten. Möglich. Oder sie hatten einen
Scharfschützen dabei, der auf den richtigen Moment wartete. Auch möglich. Oder
sie ließen ein paar Mann aus dem Gehöft schleichen, um auf die ungeschützte
Seite ihrer Gegner zu kommen. Zum Glück war das Land rings um das Gehöft kahl,
keine Bäume, nichts, wohinter man sich verbergen konnte. Sie musste nur
beobachten, ob jemand das Gehöft verließ. Sie lugte wieder hinter dem Rad
hervor und zog ihren Kopf rasch zurück. Schüsse, ein paar Meter von ihr
entfernt spritzte Sand auf. Sie sah wieder auf die Uhr, zwei Minuten waren
vergangen. Wenn sie rauskämen, würde sie schießen, bis sie noch eine letzte
Patrone hatte, dann würde sie sich selbst in den Kopf schießen. Das war klar,
das hatte sie längst für sich entschieden und immer wieder mit Ina und Maxi
besprochen. Ina sah es genauso, Maxi dagegen sagte, dass der Tod schlimmer sei
als eine Vergewaltigung. «Und zehn Vergewaltigungen», fragte Ina, «fünfzig,
hundert?»
«Wenn das
Leben vorher etwas wert war, ist es auch danach etwas wert», sagte Maxi. Aber
das Leben dazwischen, rief Ina, das könnte unerträglich sein, und es könnte
dauern, Tage, Monate, Jahre. Sie war mit der Bundeswehr in Bosnien gewesen und
erzählte von muslimischen Frauen, die serbische Soldaten über Monate eingekerkert
und täglich vergewaltigt hatten. Sie erzählte das so ausführlich, so
detailliert, dass Esther nach einer Weile schrie, sie solle aufhören damit. «So
kann das Leben dazwischen aussehen!», rief Ina, böse jetzt, zu Maxi, die sich
das ruhig, fast teilnahmslos angehört hatte. «Sie haben eine Zwölfjährige acht
Schwänze hintereinander lutschen lassen und ihr dann ...»
«Hör
auf!», schrie Esther, und weil Ina den Satz zu Ende sprechen wollte, stürzte
sie sich auf sie und hielt ihr den Mund zu. Sie kämpften, bis Maxi sie getrennt
hatte. Sie redeten zwei Tage nicht miteinander, Ina nicht mit Maxi, Esther
nicht mit Ina. Danach ging es wieder. Aber die Sache war klar, sie musste nicht
mehr darüber nachdenken, dafür hatte sie auch zu oft an das Foto aus der
Zeitschrift gedacht. Die würden sie erst vergewaltigen und dann häuten oder
sonst etwas. Sie durfte nicht den Moment verpassen, in dem sie sich noch selbst
erschießen konnte.
Man musste
diese Leute beschäftigen. Sie schoss, bis ihr Magazin leer war. Sie nahm es
heraus, legte es zur Seite und holte ein neues Magazin aus der Tasche der
Schutzweste. Es rastete ein, was für ein gutes, schönes Geräusch. Sie stellte
um auf Einzelfeuer. Sie hatte nur zwei Magazine dabei, Tauber auch, also hatte
sie noch drei, neunzig Schuss, nicht viel. Tauber sagte, der Kommandeur frage,
wie die Lage
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