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Kurbjuweit, Dirk

Kurbjuweit, Dirk

Titel: Kurbjuweit, Dirk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kriegsbraut
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eine
der größeren Überraschungen meines Lebens nennen.»
    Ihr Grimm
war verflogen, jetzt wartete sie nur noch.
    Aber es
passierte nichts. «Ich würde dich gerne küssen», sagte sie. «Ich dich auch.»
    Sie saß
da, betrachtete die hellen Stiefel an ihren Füßen. Ein Laster fuhr an der
Schule vorbei. Welchen Film sich die Jungs wohl gerade ansahen? «Es könnte sehr
schön sein», sagte sie.
    Sie hörte,
wie er seinen Stuhl nach hinten schob und aufstand. Sie betrachtete weiter ihre
Stiefel. Die Sätze, die sie sich zurechtgelegt hatte, geisterten durch ihren
Kopf, aber sie wurden leiser und blasser. Sie hörte seine Schritte, sah nicht
auf. Das hier würde erst wahr sein, wenn er bei ihr stand. Dann sah sie seine
Füße, seine Beine. Eine Hand erschien vor ihren Augen, sie legte das Gewehr
weg, nahm die Hand und ließ sich hochziehen.
    Nach dem
Kuss fragte sie ihn, was später aus den Mädchen würde, die als Jungs aufwachsen.
Wenn sie geschlechtsreif seien, sagte Mehsud, entschieden die Eltern meist,
dass sie nun eine Frau zu sein hätten. Sie würden verheiratet.
     
    Es blieb
so in den folgenden Wochen. Sie fuhr zur Schule und küsste Mehsud und war
glücklich. Und sie hatte Angst, sie hatte mehr Angst vor IEDs als jemals zuvor.
Sie beäugte die Piste, achtete auf alles, was auffällig war, aber eigentlich
war hier alles auffällig und nichts. Man konnte dieses Land nicht lesen, sie
nicht. Sie kannte die Buchstaben nicht. Oft rief sie, da blitzt was, da ist was
Komisches, aber den gelben Kanister übersah Esther, weil sie gerade den letzten
Kuss nacherlebte. Den gelben Kanister sah sie erst am Wegesrand, als er neben
ihnen war. Das war die Sekunde ihres Sterbens. Denn das wusste sie, das hatte
man ihr schon in Deutschland eingeschärft, noch lieber als Schnellkochtöpfe
nahmen die Aufständischen gelbe Plastikkanister, in denen Palmöl gewesen war.
Gelbe Plastikkanister standen hier für Tod. Sie sah ihn neben sich, und die
Angst der letzten Wochen schnurrte zu einem Gedanken zusammen: keine
Erfüllung. Sie durfte nicht sterben in Afghanistan, weil, vielleicht,
hoffentlich, ein Leben mit Mehsud auf sie wartete, ein schwieriges bestimmt,
aber ihres. Es konnte nicht sein, dass dieses Land ihr den Mann bescherte und
kurz darauf den Tod. So grausam war doch nicht einmal Afghanistan. Aber
Afghanistan war so grausam, denn da lag der gelbe Kanister. Sie dachte noch,
dass dies ein ganz bitterer Tod ist, aber da war es schon keiner mehr, da war
der Wolf schon an dem Kanister vorbeigefahren. Es war keine Bombe, jemand hatte
seinen leeren Palmölkanister in die Landschaft geschmissen. «500 Dollar fine
for littering», dachte sie. So ein Schild hatte sie mal in den Vereinigten
Staaten gesehen, als sie dort als Au-pair-Mädchen arbeitete.
     
    Ina und
Maxi sagte sie, dass es jetzt Liebe sei. Aber weil es Liebe war, kam die Angst
hinzu. Es war die Angst, dass seine Frau zurückkehren könnte. Esther dachte
manchmal an sie, sah sie in Miami leben, so wie Mehsud es beschrieben hatte.
Sonst hatte sie von Miami nur das Bild, das sie von einer Postkarte kannte,
Palmen, pastellfarbene Häuser, blauer Himmel. Ihre Mutter hatte ihr die Karte
von einer Meereskundlertagung geschickt. Vielleicht war Mehsuds Frau dieses
Leben leid und wollte zurück. War sie noch seine Frau, konnte man das so
sagen? Wenn sie tot war, war sie nicht mehr seine Frau. Am besten, sie war
tot. Das entschied sie anders als Mehsud. War das Liebe ; große
Liebe, dass man Dritten den Tod wünschte? Oder war es die Verrohung einer
Soldatin im Krieg? Hatte sie auch Greta den Tod gewünscht? In Wahrheit ja,
einmal in einer Gedankenkaskade, die sie selbst erschreckt hatte. Der Gedanke
wurde verscheucht und verboten. Kam auch nicht wieder. Und jetzt wollte sie ja
nicht, dass Mehsuds Frau starb, sondern dass ihr Tod, der wahrscheinlich war,
Wahrheit wäre. Das war etwas anderes, eindeutig. Die Tochter könnte ja noch leben,
das wäre ein guter Kompromiss. Hör auf, befahl sie sich auf einer der Fahrten,
bei der sie solche Ideen hatte, hör bitte auf. Und sie hörte auf, aber ob tot
oder nicht, ihr war klar, dass die Liebe zu Mehsud sie mit dieser Frau
verknüpft hatte, besser gesagt: seine Liebe zu ihr. Wenn es Liebe war. Er hatte
dieses Wort nie gesagt. Aber er verhielt sich so, das zählte. Vielleicht sagten
die Männer in Afghanistan so etwas nicht, war doch möglich, sogar
wahrscheinlich nach allem, was sie von dem Land wusste.
    Mehsud
hatte mit ihr tanzen

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