Kurbjuweit, Dirk
treffen. Sie würde einen Weg finden. Und er? Das schicke sich
nicht, sagte Mehsud. «Wegen der Religion?», fragte sie. «Wegen der Tradition»,
sagte er. Sie schwiegen. Sie ertrug das Schweigen nicht, weil in der Leere noch
deutlicher wurde, was nicht passierte. Sie suchte ein Thema, sie musste gegen
ihre Sehnsucht anreden, sie musste diesen Minuten einen Sinn geben, wenigstens
den zweitbesten Sinn. «Bist du religiös?», fragte sie.
«Natürlich.»
«Warum
natürlich? Ich bin's nicht», sagte sie, «bei uns gab es keinen Gott.»
«Er ist
überall.»
«Ich habe
es nicht gelernt. Meine Mutter hat höchstens an Poseidon geglaubt, mein Vater
an nichts.»
«Niemand
glaubt an nichts.»
«Wo ist
dein Gott?»
«Gott ist
ein Gespräch.»
«Du
sprichst mit ihm?»
«Nicht so,
wie du jetzt denkst, nicht in einem Dialog, in dem ich etwas sage und dann nach
einer Antwort lausche. Es ist so: Ohne Gott sind Gedanken nur ein Selbstgespräch,
das in die Haltlosigkeit führt. In Gott finden meine Gedanken einen Halt, weil
er mich über das Für und Wider zu einer Haltung führt.»
«Aber wenn
er allen Gedanken einen Halt geben würde, gäbe es keinen Krieg.»
«Und wir
hätten uns nie getroffen.»
Er
lächelte, und sie mochte ihn nicht für dieses Lächeln, obwohl er irgendwie
recht hatte, aber das machte sie noch wütender.
«Hat er
auch den Männern Halt gegeben, deren Gedanken dahin führten, dass sie
Flugzeuge in die Türme gelenkt haben? Hat ihr Gespräch mit Allah
dahingeführt?» Sie wusste nicht genau, wo diese Sätze jetzt herkamen, und war
überrascht, wie gut sie sich dabei fühlte. Rache? Aber wofür? Wollte sie sich
an seiner Langsamkeit rächen? Er sagte, dass er Allah als originelleres Wesen
kennengelernt habe, die Männer in den Flugzeugen hätten nur den Zorn der
westlichen Welt auf die westliche Welt übernommen. «Die haben im Westen
gelebt», sagte er, «da mussten sie nur lesen und zuhören, um auf diesen
Gedanken zu kommen.»
«Wir sind
selbst schuld?», schnappte sie zurück.
«Es geht
nicht um Schuld, sondern um Fakten», sagte er. «Die Türme des World Trade
Centers sind das Symbol einer geldgetriebenen Welt gewesen, kalt, rational,
billig, selbst im Teuren billig.»
«Ja, ja»,
sagte sie.
«Eben, du
kennst das, eure Intellektuellen haben euch das längst erzählt, ein Gespräch
mit Allah war für Mohammed Atta nicht mehr nötig.»
Sie saß
auf dem Boden, das Gewehr lag neben ihr, und Mehsud war weit weg, die Stunde
auf den Decken des Roten Kreuzes war weit weg. Wie konnte er so etwas sagen,
zu ihr, die ihn liebte? «Aber von unseren Leuten hat er nicht gehört, dass er
dreitausend Menschen umbringen soll. Kam das von Allah?»
«Das
glaube ich nicht», sagte Mehsud, «auch da kann man leicht drauf kommen, wenn
man im Westen lebt. Die Muslime sind dreihundertfünfzig Jahre lang im Nachteil
gewesen, weil ihnen Transzendenz wichtiger ist als Rationalität, während die
Aufklärung die Christen in diesem Punkt umgepolt hat, sie stellen seither Rationalität
über Transzendenz. Ein Vorteil», sagte er, «ganz klar ein Vorteil, damit
konnten sich Bildung und Wissenschaft durchsetzen, und der Westen fing an, die
Welt zu beherrschen. Die Rationalität hat sich der Transzendenz beim Bau der
modernen Welt als überlegen erwiesen. Glückwunsch!»
«Sei nicht
zynisch», sagte sie.
Er
schüttelte den Kopf. «Aber dann sind ein paar Leute auf die Idee gekommen, den
Vorteil zu nutzen, den die Transzendenz gegenüber der Rationalität hat.»
«Und
welcher Vorteil soll das sein?»
«Das ist
das Paradies»
«Warum das
Paradies?»
«Ihr seid
dazu übergegangen, euer Paradies im Hier und Jetzt zu erschaffen, oder das, was
ihr dafür haltet. Ihr kauft euch euer Paradies zusammen, und je mehr ihr
gekauft habt, desto größer ist eure Angst vor dem Tod. Wenn ihr sterbt,
verliert ihr das, was ihr für das Paradies haltet. Wir gewinnen es. Das ist der
Vorteil der Transzendenz. Der tief religiöse Mensch fürchtet den Tod nicht,
der Tod ist ein Gewinn für ihn, kein Verlust. Das hat Atta erkannt: Wenn der
Islam den Westen herausfordern will, muss er ihn bekriegen, da hat er einen
Vorteil.»
«Wegen der
Jungfrauen also», sagte sie.
«In
gewisser Weise.»
«Wie ist
das mit dir, hoffst du auch auf Jungfrauen?»
«Ich bin
ein Lehrer, kein Krieger.»
«Wie
können Frauen einer Religion anhängen, die ihren Männern Jungfrauen
verspricht?»
«Jeder
glaubt das, was er in seinen Gesprächen mit Gott
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