Kurbjuweit, Dirk
Thilo, an Thilos Kinder, an ihre Jugend
auf Rügen, an Kinder, die sie einst haben würde, an Sex, an Mullah Omar in
seiner Höhle, aber das waren nur Sekundenfluchten, und bald war sie wieder bei
der Pein, die sie in ihrer Lage empfand. Endlich kamen der Kommandeur, der
Pfarrer und ein paar andere, Reden, Gebete. Sie würde nicht umfallen. Sie
kämpfte, sie kämpfte gegen die schwarzen Punkte vor ihren Augen, gegen einen
harten Muskel in der Wade, gegen Harndrang, gegen ein Schwanken, von dem sie
nicht genau wusste, ob es nur innerlich war oder ihr Körper sich wirklich nach
vorne neigte. Eine Trompete, «Ich hatt' einen Kameraden», Tränen. Sie schielte
nach Ina, sah sie aber nicht.
In der
folgenden Woche wurden die Patrouillen stark eingeschränkt, die meisten
Soldaten kamen nicht mehr aus dem Lager heraus, Esther ohnehin nicht. Zunächst
war die Stimmung gut gewesen. «Endlich haben wir es denen mal gezeigt», das war
ein Satz, den Esther häufig hörte. «Glückwunsch», das auch. Sie sollte immer
wieder vom Gefecht erzählen, tat es ein paarmal, aber ihr missfiel die
euphorische Art, in der ihr zugehört wurde, und ließ es bald. Manchen galt sie
nun als eingebildete Ziege, anderen als traumatisiert. Sie ging nicht mehr ins
Lummerland, nur noch, wenn sie und Maxi die Stube räumen mussten, weil Ina
einen Liebhaber empfing. Sie merkte, wie die Stimmung sank, weil schon so ein
kleines Zurückschießen, so ein klitzekleines Zurückschlagen dafür sorgte, dass
man sich im Lager einigelte. Als habe man Angst vor Rache. Die Rache werde
ganz gewiss kommen und fürchterlich sein, das war die Ansicht der
Mullah-Omar-Gruppe, die sich nun bestätigt fühlte, wie Ina erzählte. Einige
rechneten mit einer Offensive der Taliban, sogar eine Erstürmung des Lagers
schien ihnen nicht ausgeschlossen. Das machte wiederum denen, die auf das
Kopfgeld scharf waren, neue Hoffnung. Endlich würden sich Mullah Omars Leute
zeigen, dann müsste es auch bald eine Spur zu ihm geben.
«Und wie
sehen die mich jetzt?», fragte Esther. «Du bist ein Held», sagte Ina. «Eine
Heldin», sagte Maxi. «Glaube ich nicht», sagte Esther.
«Die einen
meinen, dass du dich tapfer geschlagen hast», sagte Ina. «Die anderen, dass du
... darf ich das sagen?»
«Weiß
nicht. Sag es.»
«Dass
nicht du die Taliban niedergekämpft hast, sondern die Amerikaner mit ihren
Raketen, dass es peinlich ist, dass wir uns nicht alleine zur Wehr setzen
können, sondern, wenn es mal brenzlig wird, bei den Amerikanern um Hilfe
betteln müssen.»
«Ich habe
nicht um Hilfe gebettelt.»
«Sie
meinen ja auch nicht dich, sie meinen den Kommandeur.»
«Ach, der
Kommandeur.»
Stille.
Lange Stille, aber da war keine Ruhe drin, es war eine unruhige Stille, und
Esther wusste, dass irgendetwas kommen würde.
«Hast du
eine Frau erschossen?» Es war Maxi, die das gefragt hatte, mit einer sanften,
weichen Stimme.
«Nein, ich
habe keine Frau erschossen.»
«Zwei
Kinder?»
«Nein.»
«Gut.»
«Warum
fragst du?», fragte sie mit unterdrücktem Zorn.
«Weil es
heißt, dass eine Frau und zwei Kinder umgekommen sind», sagte Maxi.
«Ich
wusste nicht, dass sie dort waren.»
Niemand
sagte etwas, sie ließen den Satz ins Leere fallen.
«Konntest
du ja auch nicht wissen», sagte Ina schließlich. Maxi drehte sich geräuschvoll
zur Wand. Esther registrierte das kurz, war aber sofort in Gedanken wieder bei
der toten Frau, versuchte, sich ihr Leben vorzustellen, kam jedoch nicht weit.
Wie hatte die Frau geheißen? Sie kannte keine afghanischen Frauennamen. Sie
war hier nie einer Frau begegnet, außer den Mädchen in Mehsuds Schule. Einmal
hatte er eine mit Namen angesprochen. Da standen sechs Kinder vor ihm, still,
wie versteinert. Er sagte etwas, ging dann hinaus. Esther sprach sie auf
Deutsch an. Sie drehten sich um, schüchtern, verschreckt, und sie lockte sie
mit Kaugummis, die sie aus ihrer Brusttasche zog. Als Erstes kam ein Junge,
dann folgten die anderen. Sie hatte nur drei Kaugummis, es waren aber sechs
Kinder. Sie brach die Kaugummis in der Mitte durch und gab jedem Kind eine
Hälfte. Als Mehsud zurückkam, strich sie gerade einem Mädchen über das Haar. Er
sagte etwas zu dem Mädchen, und dabei fiel ein Name, meinte sie sich zu
erinnern. Welcher? Sie bohrte tief in ihrer Erinnerung, suchte, fand nichts.
Das Mädchen hatte sich dann vor Esther aufgestellt und ein Gedicht aufgesagt,
wahrscheinlich ein erzwungener Dank für das Kaugummi. Aber der Name, wie war
ihr
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