Kurbjuweit, Dirk
freundlich, gütig, aber sie hatten ihn dumm gelassen in dieser
Sache, und deshalb wirkte er weltfremd auf Esther. Zwischendurch kam jemand
vom Stab und sagte, dass Esther sich heute noch im Sanitätsbereich melden solle
und beim Truppenpsychologen. Um zwölf Uhr sei die Zeremonie für die toten
Soldaten. Oh, da müsse er sich noch vorbereiten, sagte der Pfarrer und sah auf
die Uhr. Sie könne jederzeit zu ihm kommen, fügte er hinzu, und das war ja
ohnehin klar, kein Trost also. Sie hatte wenig gesagt, und weil er so nett war,
wollte sie ihn wenigstens einmal um Rat gefragt haben, und als sie fieberhaft
nach einer Frage suchte, fiel ihr nur ein Satz aus einem Lied ein: «Warum,
Jesus, hast du mir so viel Liebe gegeben, wenn ich diese Liebe nicht leben
kann?» Oder so ähnlich. Warum das so sei, fragte sie den Pfarrer. Er war ein
bisschen ungeduldig, als er sagte, die Liebe, die gefühlt werde, sei die wahre
Liebe.
Als sie
sich vom Pfarrer verabschiedet hatte, war sie niedergeschlagen. Gespräche
würden nun immer so sein. Über das Wesentliche, Eigentliche konnte sie nichts
sagen. Alle Gespräche würden misslingen, weil ihre Gegenüber, selbst wenn es
ihre Mutter war, Thilo, Ina, Maxi, Leute, zu denen sie Vertrauen hatte, nichts
von der Frau und den Kindern wussten. Diese drei Afghanen würden jetzt zu ihr
gehören, dachte Esther, während sie zu ihrer Stube zurückging, die sind als
Tote in ihr Leben eingedrungen und würden dort für immer bleiben. Dieser
Gedanke traf sie mit einer Wucht wie noch kein anderer seit dem Überfall. Sie
beeilte sich, in ihre Stube zu kommen, zog sich dort hastig aus, schlüpfte in
die Sportkleidung und rannte los. Aber sie entkam den Gedanken nicht. Nach
zwanzig Minuten fädelte sich das Wort Familie ein. Die Frau und die beiden
Kinder würden zu ihr gehören wie die Mitglieder einer Familie, sie würde mit
ihnen leben müssen, ob sie wollte oder nicht, aber das war ja allgemein so in
Familien. Sie lief schnell, trotz der Hitze, nach vierzig Minuten schlug ihr
Puls im Bereich von 160, robust, gleichmäßig. Sie konnte noch schneller und
beschleunigte. Hatte sie jetzt einen Namen für ein Kind, für acht Kinder? Sie
wollte das nicht denken, aber jetzt war es da. Oder gehörten die Namen Sally,
weil die geschossen hatte? Aber Esther hätte verhindern können, dass Sally
schießt. Also waren das doch auch ihre Toten. Sally vier und sie vier? Wie würden
die Kopfjäger von Papua-Neuguinea entscheiden? Aufhören, schrie sie sich an.
Sie war schweißgebadet, die Augen brannten. Sie kannte die Namen doch gar
nicht. Musste man vorher immer fragen? Hör jetzt auf. Bitte.
Esther
lief siebzig Minuten, sie ging noch ein paar Schritte, wankte, dann ließ sie
sich auf den Asphalt fallen. Sie lag auf dem Rücken, Beine und Arme von sich
gestreckt, pumpend, gedankenleer, bis ein Hund ihr Gesicht ablecken wollte.
Sie stieß ihn weg, ließ sich noch einmal zurückfallen, um ihr Herz zur Ruhe
kommen zu lassen. Sie hörte ein Hupen, sah auf und sah einen Dingo auf sich
zurasen. Sie legte den Kopf wieder auf den Asphalt, der Dingo umkurvte sie,
ein Mittelfinger. Sie sah die Schneekuppen des Hindukusch, seltsam verschwommen
durch den Schweiß in ihren Augen. Der Hund hatte sich neben sie gelegt und
jaulte. Sie stand auf. Dunkle Flecken blieben auf der Straße zurück, ihr Kopf,
ihr Rücken, ihr Hintern, ein bisschen von ihren Beinen, ihren Armen, ein
Selbstbild aus Schweiß, unvollständig, zerrissen, und doch sie. Esther
trottete zu ihrer Stube, versorgte sich unterwegs mit Wasser und trank zwei
Liter. Sie duschte lange.
Esther
stand in Reih und Glied auf dem Exerzierplatz, Fahnen, zwei Särge, vierzig
Grad. Über den Straßen des Lagers flimmerte die Hitze. Sie standen da, nichts
passierte. Nach einer halben Stunde fiel der erste Soldat um. Er fiel ohne
Ankündigung, sackte in sich zusammen und lag dann reglos im Sand. Die beiden
Soldaten, die neben ihm gestanden hatten, knieten bei ihm, Sanitäter kamen mit
einer Trage und schafften ihn weg. Ein anderer füllte die Lücke. Esther
verlagerte das Gewicht vom linken Bein auf das rechte. Ihr Gesicht war nass,
ihr Rücken, ihr Po, ihre Brust, ihr Bauch. Sie würde rot sein am Ende dieses Tages,
obwohl sie sich an die Sonne gewöhnt hatte. Ihre Haut fühlte sich hart und
straff an wie die Haut einer gegrillten Ente. Sie hatte alles Mögliche
versucht, sich vom Kitzeln des Schweißes und von der trockenen Kehle
abzulenken, sie dachte an Mehsud, an
Weitere Kostenlose Bücher