Kurbjuweit, Dirk
Fischen erzählen wollte,
sagte Esther: «Mama, ich war in Afghanistan.» Ihr Vater, der fast eingenickt
war, riss die Augen auf, ihre Mutter schenkte ihm Tee nach. «Entschuldige,
Kind», sagte sie.
Als Esther
später in ihrem Zimmer lag, auf ihrem Bett, hatte sie das Gefühl, von der Reise
in einen Club Robinson berichtet zu haben. In ihrer Erzählung gab es einen
harmlosen Alltag unter einer herrlichen Sonne, kein Gefecht, keine Toten,
keine Taliban. Sie war die Animateurin, die sich um die Kinder im schulfähigen
Alter kümmerte. Gutes Essen, reichlich. Die Wörter Deutschland, deutsche
Soldaten, Bundeswehr kamen so gut wie nicht vor, wegen des Vaters. Sie hatten
einen schönen Abend miteinander, später, nach dem Essen, erzählten sie von
früher, ohne dass jemand traurig wurde. Ihr Vater drückte sie sehr fest, als
sie sich ins Bett verabschiedete. Jetzt lag sie da, wo sie achtzehn Jahre lang
gelegen hatte, aber sie bekam die Verbindung nicht hin zu dem Mädchen von
damals. An der Wand hingen Poster von Pferden und von Robbie Williams. Es waren
noch die DDR-Möbel, bis auf die Schreibtischlampe, die hatte ihre Mutter nach
dem Fall der Mauer in Westberlin gekauft.
Am Morgen
fragte die Mutter, ob Esther mit ihr zum Strand fahren würde. Sie kannten eine
Stelle im Norden, die schwer zu erreichen war, weshalb es kaum Touristen gab.
«Lass uns zum Wal gehen», sagte Esther, als sie am Strand waren. Ihre Mutter
lächelte. Sie gingen stramm, das war ihr gemeinsames Tempo. Papa hatte einen
trägen Schritt, mit ihm mussten sie sich immer bremsen. Beide wussten noch
genau, wo der Wal gelegen hatte. Es war bewölkt, nicht richtig warm, eine
leichte Brise, das Wasser kräuselte sich.
Als sie an
der Stelle ankamen, setzten sie sich in den Sand, und Esther erzählte ihrer
Mutter, wie es wirklich gewesen war in Afghanistan. Sie erzählte von dem Gefecht
und der Frau und den Kindern. Sie sprach das alles in den Sand. Nun schaute sie
hoch und suchte den Blick ihrer Mutter. «Mama, warum habe ich nichts gesagt?»
«Ach,
Kind», sagte ihre Mutter, rückte heran und legte einen Arm um Esther.
Ein
Katamaran mit einem bunten Segel, Möwen, zwei Spaziergänger. Sie hatte das Wort
Kind seit Jahren nicht mehr gemocht aus dem Mund ihrer Mutter, aber jetzt war
sie dankbar, dass es dieses Wort noch gab für sie. «Wir weinen nicht, okay?»,
sagte Esther.
«Okay.»
Sie saßen
eine Weile schweigend am Strand und ließen Sand durch die Finger rieseln, bis
sich kleine Hügel zwischen ihren Beinen gebildet hatten. «Ich habe mir oft
ausgemalt, wie es ausgesehen hätte, wenn der Wal explodiert wäre», sagte
Esther.
Am Auto
sagte sie: «Nichts dem Papa sagen, ja?»
«Kein
Wort.»
Sie
lächelten sich an, Mutter und Tochter.
«Musst du
da wirklich nochmal hin?», knurrte ihr Vater am Frühstückstisch. «Papa, das
weißt du doch.»
«Erst
nehmen sie uns das Land, dann die Kinder.»
«Ich lebe
ja noch.»
Es
klingelte an der Tür, und ein Urlauber aus einer der schönen Katen fragte, ob
er hier Eier kaufen könne. Zum Glück hatte die Mutter geöffnet und nicht der
Vater. Eier gebe es im Supermarkt.
Mittags
fuhren die Eltern Esther zum Bahnhof. Es war ein kurzer, undramatischer
Abschied, als gäbe es die stille Übereinkunft, dass ein großer Abschied nur
sinnvoll ist, wenn Esthers Tod zu befürchten ist. Mit einem kleinen Abschied
hatten sie diese Möglichkeit ausgeschlossen. Aber als sie allein war, schaute
Esther bis Stralsund jeden Baum an, als wäre es das letzte Mal. Dann hatte sie
das überstanden und schlief bis Berlin.
Am
nächsten Tag ging sie aufs Amt und erkundigte sich, wie man einem Afghanen eine
Aufenthaltserlaubnis für Deutschland beschaffen kann. Beim Wort Afghane
schaute die Beamtin auf, aber sie blieb freundlich, und wenn Esther Mehsud
heiraten würde, könnte er kommen. Sie hatte gute Laune, als sie das Amt verließ.
Für den
darauffolgenden Abend hatte Thilo ein paar Bekannte eingeladen, einen
Schauspieler, eine Schauspielerin, einen Finanzberater und einen
Anästhesisten, der in einem Krankenhaus arbeitete. Thilo stellte Esther als
Soldatin vor, die gerade in Afghanistan gewesen sei. Drei Hühnchen im Römertopf
kamen auf den Tisch, und erst einmal erzählte nur der Schauspieler. Er gab gerade
den Othello an der Schaubühne und musste Desdemona nackt unter einem weißen
Laken lieben. Für ihn sei es immer noch schwierig, nackt auf der Bühne zu sein,
weil sein Gemächt dann so klein werde, aus Angst
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