Kurier
vernünftigen Einsicht, dass er überreizt war.
Milan hockte sich in einen Sessel. »Ich habe Sigrid angerufen.
Sie sagt, sie will mich sehen. Kann sie kommen?«
»Sicher«, sagte Grau. »Aber sie soll darauf achten, dass
ihr niemand folgt.«
»Aber sie ist doch für die nicht wichtig«, wandte Milan
ein.
»Wer weiß das denn? Wir haben es mit ein paar Parteien zu
tun, und jede hält sich für sehr wichtig.«
»Was heißt, dass Meike ein Teil des Planes ist? Ich habe
das nicht verstanden.«
»Ich auch nicht so ganz«, gab Grau zu. »Wir werden es
spätestens dann erfahren, wenn Sundern mit mir spricht.«
»Ruf diesen White an und erzähl ihm von Nase. Vielleicht …«
»White wird es längst wissen. Ich will jetzt nicht mit White
sprechen, ich bin wütend auf ihn. Ich würde ihm auf den Kopf zusagen, dass er
ein Arschloch ist. Das erspare ich mir lieber, vielleicht können wir ihn noch
irgendwie für unsere Zwecke einspannen. Übrigens: Du hast doch gesagt, du hast
den toten Nase gesehen. Wie tot war er wirklich?«
»Also, du Journalist: Einer flog durch das Fenster, okay?
Der war sofort tot. In dem Raum, in dem sie gesessen haben, waren keine
Leichen, nur Teile. Die Teile von zwei Männern. Nase muss tot sein, okay? Hast
du Angst, er steht plötzlich in der Tür und schießt?«
Grau nickte. »Natürlich habe ich daran gedacht. Wie hast
du das eigentlich in Sarajevo durchgestanden?«
»Das weiß ich nicht.« Milan grinste. »Aber ich bin jetzt
hier, und gleich kommt Sigrid.« Er ging zu einem Regal und angelte nach dem
Telefonhörer.
Grau stand auf und ging zur Badezimmertür. Meike war
offenbar gut gelaunt, denn sie sang den Wirtinnenvers: »Frau Wirtin hatte einen
Schmiehd, der hatte ein vierkantig Gliiehd …«
»He, ich muss mal!«, schrie er.
»Wie bitte? Grau? Was ist?«
»Mir droht Verdauung«, sagte er.
»Ach so.« Sie kam heraus, hatte sich in ein Badetuch gewickelt
und ihre großen Augen waren erstaunlich klar. »Ich bin sauber, ich rieche gut.«
Grau ging hinein und schloss die Tür hinter sich. Sie
hatte ein gutes Dutzend Handtücher gebraucht, und er musste sie zu einem Haufen
zusammenwerfen, ehe er weitergehen konnte. Auf dem geschlossenen
Toilettendeckel lag die silberne Dose mit dem Kokain. Daneben stand eine
Flasche Wodka ohne Glas.
Grau räumte die Utensilien auf die Fensterbank und pinkelte.
Er atmete hastiger und spürte Wut im Bauch. Er nahm die Flasche und goss den
Schnaps ins Waschbecken. Das Döschen mit dem Koks warf er zum Fenster hinaus. Dann
wusch er sich die Hände, trocknete sie ab und öffnete die Tür.
Sie stand da und sah ihn an. Sie wusste genau, was er gerade
gemacht hatte. Sie sagte leise: »Ich kann das alles nicht mehr ertragen.«
»Solange du bei mir bist, wirst du das Scheißzeug nicht
anrühren«, sagte er streng. »Ich dulde das nicht.«
Sie stand da und weinte lautlos. Dann ging sie an ihm vorbei
und schluchzte: »Glaubst du, dass ich mir irgendein Hemd aus dem Schrank nehmen
kann?«
»Sicherlich«, sagte er heiser und ging ins Wohnzimmer
zurück. Er war völlig verkrampft, griff nach einem Aschenbecher und schleuderte
ihn mit aller Kraft gegen eine rotbraune Tonvase, die auf dem Boden stand.
»He!« Milan fand das offensichtlich wunderbar.
»Ich will diese Menschen nicht«, sagte Grau.
»Dann musst du gehen«, riet Milan. »Einfach nach Hause
gehen. Ich jedenfalls schlafe jetzt eine Runde.«
Das Funktelefon in Graus Jackentasche fiepste, er holte
es heraus und meldete sich so vorsichtig, als könnte es ihren Aufenthaltsort
verraten.
Es war Sundern. Er begann sachlich: »Wie oft haben Sie
mit White und Thelen gesprochen?«
»Mit White zweimal. Beim zweiten Mal war Thelen dabei.«
»Hat White Ihnen irgendetwas Persönliches erzählt? Irgendetwas?
Hat er in Washington gebaut? Ein Flugzeug gekauft, was weiß ich.«
»Nein. Er sagte, er habe ein Häuschen in Georgetown und
sehe seine Familie selten, eigentlich gar nicht. Er hat Kummer, ja, natürlich,
Moment. Er sagte, seine Frau wolle sich scheiden lassen. Er sagte auch, dass
seine Sekretärin behauptet, sie bekomme ein Kind von ihm. Wieso fragen Sie? Was
wollen Sie damit?«
Sundern überlegte einen Augenblick. »Ich möchte der
Schwarz-Weiß-Färbung Ihrer Welt ein paar Schatten hinzufügen. Ich melde mich
wieder.«
Grau legte sich wieder auf das Sofa und starrte an die Decke.
Langsam wurde er ruhiger, schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen
Atem.
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