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Kurs auf Spaniens Kueste

Kurs auf Spaniens Kueste

Titel: Kurs auf Spaniens Kueste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick O'Brian
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verzweifelter Entschluß, die unbeschädigte andere Breitseite der Fregatte auf sie abzufeuern; und seine ungläubige Erleichterung, als sie überraschend abdrehten und am bedrohlichen Horizont immer kleiner wurden. Warum hatten sie aufgegeben?
    Dann das Geräusch, das ihn während der Mittelwache geweckt hatte: zuerst ein tiefes Stöhnen, langsam ansteigend in Tonhöhe und Lautstärke bis zu gellendem Geheul, danach eine schnelle Kadenz gesprochener oder gesungener Worte und wieder das anschwellende Geschrei, das mit einem hohen Kreischen endete: Die Iren der Besatzung hielten die Totenklage für James Dillon, den sie mit je einer Laterne zu Häupten und zu Füßen aufgebahrt hatten, ein Kruzifix in den gefalteten Händen.
    Und schließlich die Bestattungen: Das Kind Ellis, in seine Hängematte eingenäht, mit der Nationalflagge darüber, sah aus wie ein kleiner Pudding; bei der Erinnerung bekam Jack wieder feuchte Augen. Er hatte geweint, hemmungslos geweint, hatte mit tränenüberströmtem Gesicht die Toten der See übergeben, während die Seesoldaten ihren letzten Salut schossen.
    Herrgott, dachte er, Herrgott. Denn beim Abfassen seines Berichts und beim Heraufbeschwören der schrecklichen Bilder überflutete ihn wieder tiefe Trauer. Eine Trauer, die nach dem Ende des Gefechts nicht von ihm gewichen war, bis einige Meilen vor Kap Mola auch der letzte Windhauch einschlief und sie mit hastigen Kanonenschüssen einen Lotsen und Schlepphilfe herbeirufen mußten. Vom Papier aufblickend, versuchte er sich zu erinnern, wann die Freude durchgebrochen war. Mit dem Flaum der Schreibfeder streichelte er sein verletztes Ohr, während er durch die Heckfenster den stattlichen Beweis für seinen Sieg anstarrte. Die Fregatte lag am Werftkai, mit der unbeschädigten Backbordseite ihm zugekehrt, und im herbstlich blassen Wasser spiegelte sich ihr roter Rumpf mit den vergoldeten Schnitzereien: so schmuck und stolz wie an jenem Tag, als er sie zum ersten Mal erblickt hatte.
    Vielleicht war die Wende eingetreten, als er die ersten Glückwünsche des ungläubig staunenden Kommandanten der Bellerophon entgegengenommen hatte, dessen Gig ihn als erstes Boot erreichte. Nach Sennet kamen Butler von der Naiad und der junge Harvey, dann Tom Widrington und einige Fähnriche, zusammen mit Marshall und Mowett von seinen früheren Prisen; die beiden grämten sich schier krank, weil sie das Gefecht versäumt hatten, sonnten sich aber bereits im Abglanz von Sophies Ruhm. Ihrer aller Boote nahmen die Slup und deren stattliche Prise in Schlepp, ihre Männer lösten die erschöpften Seesoldaten und die Freiwächter ab, die die Gefangenen bewacht hatten. Plötzlich senkte sich die Anstrengung der vergangenen Tage wie eine weiche, erstickende Decke auf Jack herab, und er fiel mitten zwischen ihren Fragen in Schlaf. Ja, vielleicht war es dieser köstliche Schlaf gewesen — und sein Erwachen im stillen Hafen, wonach ihm in doppeltem Umschlag eine hastig gekritzelte, ungezeichnete Botschaft von Molly Harte übergeben wurde.
    Ja, dies war der Augenblick gewesen. Die große Freude, das intensive, anschwellende Entzücken, hatte ihn schon beim Erwachen erfüllt. Natürlich grämte er sich noch, grämte sich bitterlich über den Verlust seiner Kameraden — hätte seine rechte Hand dafür gegeben, sie lebend um sich zu haben — und verspürte in seiner Trauer um Dillon ein vages Schuldbewußtsein, dessen Quelle ihm verborgen blieb. Die Verlustgefühle eines aktiven Offiziers im Krieg waren intensiv, aber nicht anhaltend. Jacks nüchterner Verstand sagte ihm, daß es bisher nicht viele gleich erfolgreiche Gefechte zwischen zwei Einzelschiffen von so unterschiedlicher Stärke gegeben hatte. Wenn er sich jetzt keine spektakuläre Dummheit leistete, wenn er sich nicht selbst in den Orkus blies, dann würde ihn als nächstes von der Admiralität in London eine Ausgabe der »Gazette« mit seinem Bericht erreichen — und die Beförderung zum Vollkapitän.
    Mit etwas Glück würde er eine Fregatte bekommen. An seinem inneren Auge zogen die ruhmreichen, schneidigen Kriegsschiffe wie auf der Parade vorbei: Emerald, Seahorse, Terpsichore, Phaeton, Sibylle, Sirius , die glückhafte Ethalion, Naiad, Alcmene und Triton , der Schnellsegler Thetis . Auch Endymion, San Fiorenzo, Amelia — es waren Dutzende. Insgesamt über hundert Fregatten hatte die Royal Navy im Dienst. Besaß er das Recht auf eine davon? Nicht unbedingt. Ein Kurierschiff von zwanzig Kanonen, irgend

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