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Kurs auf Spaniens Kueste

Kurs auf Spaniens Kueste

Titel: Kurs auf Spaniens Kueste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick O'Brian
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Nierchenragout und ein gegrillter Steinbutt von Wagenradgröße wurden aufgetragen und dazu natürlich das Übliche: Schinken, Eier, Toast, Orangenmarmelade und Kaffee.
    Jack betrachtete das Aquarell so lange, wie er das, ohne aufzufallen, konnte, und rief dabei: »Ihr Schlafzimmerfenster, Sir? Ganz erstaunlich!«
    Das Frühstück in Dr. Ramis' Quartier war dagegen eine karge Angelegenheit und fast schon eine Übung in Enthaltsamkeit: ein Becher Kakao ohne Milch und ein Stück Brot mit sehr wenig Olivenöl. »Ein bißchen Öl sollte uns nicht schaden«, sagte Dr. Ramis, den seine Leber marterte. Er war ein sauertöpfischer, magerer, verstaubt wirkender Mann mit hagerem, gelblichgrauem Gesicht und tiefen, violetten Augenringen. Niemand hätte ihm freundliche Gefühle zugetraut, und doch war er vor Freude errötet, als Stephen — der seiner Obhut anheimgegebene Gefangene — bei der Begrüßung ausgerufen hatte: »Doch nicht der berühmte Dr. Juan Ramis, der Verfasser des Specimen Animalium ?«
    Sie waren gerade von ihrer Visite im Bordlazarett der Desaix zurückgekehrt, das kaum belegt war, denn Dr. Ramis fühlte sich leidenschaftlich dazu berufen, auch anderer Leute Lebern zu kurieren, und zwar mit Fasten und Alkoholentzug. So lagen da nur ein Dutzend leichtere Fälle: einige Tripper, die vier Invaliden von der Sophie und die französischen Verwundeten aus ihrem letzten Gefecht — drei Männer, die Mr. Dalziels kleine Hündin gebissen hatte, als sie sie streicheln wollten; man hatte sie wegen Tollwutverdachts isoliert. Nach Stephens Meinung befand sich sein Kollege hierbei im Irrtum. Ein schottischer Hund, der einen Franzosen biß, war deshalb noch nicht toll, sondern höchstens nicht geschmäcklerisch genug. Doch behielt Stephen diese Meinung für sich und sagte nur: »Ich denke gerade über Gefühle nach.«
    »Gefühle?«
    »Ja. Über Gefühle und den Ausdruck von Gefühlen. Sie haben doch in Ihrem fünften Buch und in einigen Kapiteln des sechsten den Gefühlsausdruck bei Tieren behandelt, zum Beispiel bei der Katze, dem Rind, der Spinne ... Auch ich habe eine ungewöhnlich variable Brillanz im Blick der Wolfsartigen festgestellt — aber haben Sie jemals ein ähnliches Glühen im Auge der Gottesanbeterin bemerkt?«
    »Niemals, werter Kollege. Obwohl Busbequius es einmal erwähnt«, antwortete Dr. Ramis selbstzufrieden.
    »Mir scheint aber, daß Gefühle und Gefühlsausdruck durchaus gleichzusetzen sind. Nehmen wir doch einmal Ihre Katze: Angenommen, wir rasieren ihr den Schwanz, so daß sie ihn nicht mehr sträuben kann; dann binden wir ihr ein Brett auf den Rücken, so daß sie ihn nicht mehr krümmen kann. Danach setzen wir sie einem für sie unangenehmen Anblick aus — dem eines angriffslustigen Hundes, zum Beispiel. Jetzt kann sie ihre Gefühle also nicht mehr unbeschränkt ausdrücken. Woraus sich die Frage ergibt: Kann sie sie noch uneingeschränkt fühlen? Natürlich fühlt sie noch etwas, denn wir haben nur die gröbsten Reaktionen unterbunden. Aber fühlt sie uneingeschränkt ? Sind nicht der Katzenbuckel und das gesträubte Haar ein wesentlicher Bestandteil des Gefühls, nicht nur sein äußerer Ausdruck?«
    Dr. Ramis legte den Kopf schräg, kniff Augenlider und Lippen zusammen und fragte: »Aber wie das messen? Man kann es nicht messen. Es ist eine Annahme, gewiß eine interessante Annahme. Aber, mein Bester, wo bleibt die Meßbarkeit? Nein, man kann es nicht messen. Naturwissenschaft beruht auf Meßwerten — keine Erkenntnis ohne Meßwerte.«
    »Aber es ist meßbar«, rief Stephen eifrig aus. »Kommen Sie, wir wollen einander den Puls fühlen.«
    Dr. Ramis zog seine Taschenuhr heraus, eine schöne Breguet mit zentralem Sekundenzeiger, und bald saßen beide ernsthaft zählend am Tisch.
    »Und nun, verehrter Kollege, stellen Sie sich vor — stellen Sie es sich bildhaft vor —, daß ich Ihnen diese Taschenuhr entreiße und sie auf dem Fußboden zertrample. Und ich meinerseits stelle mir vor, daß Sie ein abgefeimter Schurke sind. Kommen Sie, wir wollen die dazu passende Gestik und Mimik simulieren, den Ausdruck heftiger, erbitterter Wut.«
    Dr. Ramis' Gesicht verzerrte sich; seine Augen verschwanden fast ganz, zitternd reckte er den Kopf vor; Stephen fletschte die Zähne und schüttelte die erhobene Faust. Ein Steward trat mit einem Krug heißen Wassers ein (eine zweite Portion Kakao war nicht erlaubt), den er vor Schreck beinahe fallen ließ.
    »Und jetzt«, sagte Stephen Maturin, »wollen wir

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