Kurs auf Spaniens Kueste
die Marine? Leider habe ich damals nicht daran gedacht, ihn danach zu fragen. Quaere: Ist dieser Gewissenskonflikt der Grund für Dillons Übererregtheit? Ich glaube, ja. Er lebt mit Sicherheit unter einem starken inneren Druck. Mehr noch, er scheint an einem kritischen Lebensabschnitt zu stehen, vor einem kleinen Klimakterium — einem Punkt, an dem seine Entwicklung einen bestimmten Verlauf nehmen wird, bestimmend für den Rest seines Lebens. Oft kommt es mir so vor, daß an solchen Wendepunkten (die wir alle durchmachen) Männer ihren endgültigen Charakter prägen — oder ihr Charakter ihnen aufgeprägt wird. Unbeschwerte Offenheit vorher, und dann — nach einer vielleicht zufälligen Verkettung gewisser Umstände oder wegen einer heimlichen Voreingenommenheit (die Veranlagung sein kann) — bricht eine Wesensveränderung durch, die den Mann auf einen vorgezeichneten Pfad führt, den er nicht mehr verlassen kann, auf dem er weiterschreiten muß, seine Spuren ständig tiefer grabend, bis sein Pfad zum Hohlweg, zum Kanal wird, der ihn an seinen Charakter bindet, an seine Persönlichkeit, ihm alles menschlich Offene raubt und ihn zu einem Produkt dieser starren Charaktereigenschaften macht. James Dillon war ein wunderbar offener Mensch. Jetzt verengt er sich. Es ist seltsam — oder sollte ich sagen: schmerzlich wie die heitere Leichtigkeit dahinschwindet, die Fröhlichkeit des Herzens, die natürliche, quicklebendige Freude am Leben. Autorität ist wohl ihr größter Feind — vermeintliche Autorität. Ich kenne nur wenige Männer über Fünfzig, die durch und durch Mensch geblieben sind. Und keiner davon hat längere Zeit Autorität ausgeübt. Die Vollkapitäne in Mahón, auch Admiral Warren, sind alle geschrumpft (geschrumpft im Wesen, nicht im Leibesumfang, leider). Pomp, Völlerei, cholerisches Temperament, zu späte und zu teuer erkaufte Sinnenfreude, etwa mit einer heißblütigen Geliebten, sind die Ursachen. Und doch ist Lord Nelson nach Jack Aubreys Schilderung so direkt, so unverbildet und liebenswert geblieben, wie man es sich nur wünschen kann. Das gilt auch für JA selbst, mit ganz wenigen Ausnahmen. Nur manchmal scheint bei ihm diese bedenkenlose Arroganz der Macht durch. Er hat seine Heiterkeit jedenfalls noch nicht verloren. Aber wie lange wird sie ihm erhalten bleiben? Welche Frau, welches politische Ziel, welche Enttäuschung, Verwundung, Krankheit, Niederlage, welches ungeratene Kind — kurz, welcher unvorhersehbare, unselige Vorfall wird sie ihm rauben? Aber James Dillon macht mir Sorgen: Er ist so munter wie früher — vielleicht sogar noch quecksilbriger —, aber zehn Oktaven tiefer, in einer viel dunkleren Molltonart. Manchmal fürchte ich, daß er sich in einer schwarzen Stunde Schaden zufügen wird. Ich würde viel darum geben, wenn ich ihn zur herzlichen Freundschaft mit Jack Aubrey bewegen könnte. Die beiden sind in vielem so ähnlich, und James hat ein Talent zur Freundschaft. Wenn er begreift, daß er JAs Verhalten mißverstanden hat, wird er sich ihm gewiß öffnen. Aber kann er es jemals begreifen, oder wird JA selbst zum Anlaß seiner Unzufriedenheit werden? Falls ja, besteht wenig Hoffnung. Denn dieses Mißvergnügen, dieser innere Zwist muß bei einem (gelegentlich) so humorlosen, ehrversessenen Mann übermächtig sein. Er ist gezwungen, öfter als die meisten Menschen das Unvereinbare zur Deckung zu bringen; und er ist weniger als andere dazu qualifiziert. Auch wenn er das Gegenteil behauptet, weiß er genausogut wie ich, daß er jederzeit Gefahr läuft, eine furchtbare Konfrontation bewältigen zu müssen. Angenommen, er wäre es gewesen, der Wolfe Tone in Lough Swilly ergriffen hätte? Und was, wenn Emmet die Franzosen zu einem erneuten Invasionsversuch überredet? Oder wenn Bonaparte seinen Frieden mit dem Papst macht? Alles wäre möglich. Andererseits ist JD wirklich beweglich wie Quecksilber, und wenn er erst in einer glücklichen Stunde JA so schätzen lernt, wie er es verdient hat, wird er ihm die größte Treue entgegenbringen. Ja, ich würde viel darum geben, die beiden zu Freunden zu machen.«
Seufzend ließ Stephen die Feder sinken. Er legte sie auf dem Deckel eines Glases ab, das eine der schönsten Aspisvipern enthielt, die er jemals gesehen hatte: dick, stumpfnasig und voller Gift ringelte sie sich in ihrem Spiritus, ein Auge mit der geschlitzten Pupille auf ihn gerichtet. Diese Viper war eine Ausbeute der fruchtbaren Tage, die er in Mahón verbracht hatte,
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