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Kurs Minosmond

Kurs Minosmond

Titel: Kurs Minosmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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Sekten auch von der Unduldsamkeit der Kirchen genährt worden, ja, häufig waren sie nur Abwandlungen der verschiedenen Religionsbekenntnisse. Solche Sekten gab es nicht mehr. Die heutigen Sekten huldigten meist irgendeinem halbwissenschaftlichen oder halbkünstlerischen Aberglauben. Sie bestanden in der Regel nur einige Jahrzehnte, dann zerfielen sie wieder, aber anderswo entstanden neue, und so blieb die Gesamtzahl ziemlich konstant. Die Soziologen hatten verschiedene Erklärungen dafür zur Hand; die gängigste sagte etwa folgendes: Kreativität ist unzweifelhaft eine der höchsten gesellschaftlichen Tugenden und für den einzelnen außerordentlich erstrebenswert – sie macht das gesellschaftliche Leben und auch das persönliche Leben reichhaltiger. Normalerweise hat jeder die Voraussetzung und die Möglichkeit, auf irgendeinem Gebiet kreativ zu werden – wenn schon nicht im Dienst, was nicht überall möglich ist, dann aber doch im Handwerk und in der Kunst. Aber nicht jedermanns Leben verläuft geradlinig. Es gibt Glück und Unglück, Über- und Unterforderung, man kann übers Ziel hinausschießen oder es nicht erreichen – jedem passiert das mal, und die meisten wachsen daran. Wer aber nicht damit fertig wird und vom nächsten Schlag schon ereilt wird, bevor er den vorangegangenen bewältigt hat, der kann in die Lage kommen, daß er sein Bedürfnis nach Kreativität nicht befriedigen kann. Hat er dazu noch einen relativ niedrigen Bildungsstand, weicht er vielleicht auf Gebiete aus, wo er sich scheinbar mit weniger Mühe, nämlich mit Hilfe von Illusionen, schöpferisch fühlen kann. Wenn zwei solche Leute aufeinandertrafen, war das schon der Keim einer Sekte.
    Meist hing eine solche Sekte einer Idee aus dem Arsenal der Illusionen an, die man sich gegen Ende der Vorgeschichte und noch in der Übergangsperiode gemacht hatte, wie etwa der Parapsychologie. Die Fliegenden Menschen, wie sie sich selbst bezeichneten, oder Flattermänner, wie sie spöttisch genannt wurden, obwohl es durchaus nicht nur Männer waren, sondern auch Frauen – diese Leute also gingen mit ihrer Idee auf solche Quellen zurück: Levitation, so wurde die angestrebte Fähigkeit genannt, sich durch seelische Konzentration gewichtslos zu machen, also die Schwerkraft aufzuheben.
    Die Erfahrung hatte gelehrt, daß man eine Sekte mit Argumenten nicht auflösen konnte; wissenschaftliche Kritik half da nichts, sie vergrößerte nur den Eifer der Entgegnungen und den Zusammenhalt der Mitglieder. Da solche Sekten auch fast nie andere bedrohten oder in ihrer Freiheit einschränkten, blühten sie auf und starben wieder ab, gingen vorüber wie leichte Infektionen, von denen niemand etwas merkte und die doch die Immunkräfte des gesellschaftlichen Körpers stärkten.
    Hier freilich lag ein Grenzfall vor. Die Flattermänner taten zwar andern Leuten nichts, aber sie taten sich selbst etwas:
    Irgendwer brach sich bei ihren Übungen die Knochen, manche sogar mehrmals, und kaum einer gab danach auf; aber noch niemand hatte bleibenden Schaden davongetragen.
    Wenzel hatte mit dem Stadtbezirksratgeber verabredet, daß sie benachrichtigt würden, wenn die Flattermänner sich wieder zu neuen Übungen versammelten. Doch als jetzt der Anruf kam, war Wenzel unterwegs. Pauline nahm die Nachricht entgegen, und die war alarmierend, der Anrufer – ein lokaler Ordner – konnte seine Aufregung schlecht verbergen.
    „Die Flattermänner wollen heute einen großen Versuch starten. Ich hab’s vom Ratgeber eines Häuserblocks, der hat einen Nachbarn dabei. Sie wollen von der Kippe springen und fliegen.“
    „Wo ist das?“ fragte Pauline, und während sie Ort und Zeit notierte, überlegte sie, was zu tun sei.
    „Der Zweite ist jetzt nicht hier, aber Sie können in seinem Auftrag die Ordnerschule anrufen, sie sollen eine Klasse dorthin schicken. Von mir hier ist es nicht weit, ich mach mich sofort auf den Weg.“
    Sie legte noch eine Notiz für Wenzel mitten auf den Fußboden, so daß er sie unmöglich übersehen konnte; ihn zu suchen war jetzt keine Zeit mehr. Mit einem Selbstfahrtaxi war sie bald an der Kippe.
    Die Kippe war eigentlich ein Naherholungsgebiet, der Name war übriggeblieben aus der Zeit, als ganze Stadtteile neu gebaut und danach auf den Bauschutthalden Parks angelegt wurden. Pauline erblickte schon von weitem den Steilhang, der etwa zehn Meter hoch war und den Eindruck erweckte, er sei natürlich entstanden. Meist wurde der obere Rand als Absprung von

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