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Kurschatten: Ein Sylt-Krimi

Kurschatten: Ein Sylt-Krimi

Titel: Kurschatten: Ein Sylt-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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sich bei ihnen sicher und geborgen gefühlt hatte.
    »Sie waren wohl zu feige«, sagte sie bitter. »Sie wollten sich nicht mit mir auseinandersetzen. Vielleicht hatten sie Angst, dass ich mich auf die Suche nach meiner Herkunftsfamilie machen würde, dass dann auf Juist der Schein von der intakten Familie nicht mehr aufrechtzuerhalten war, dass sie mich am Ende verlieren würden. Das alles war ihnen wichtiger, als mir das Recht zuzugestehen, meine Wurzeln zu kennen. Ein Recht, das jeder Mensch hat!«
    Mamma Carlotta merkte, wie gut Wiebke das Reden tat. So schwer die Vergangenheit auch immer noch auf ihr lastete, im Moment lenkte sie ihr Schicksal ab von der Enge in diesem Raum und der Frage, wann sie befreit werden konnten. Und was sie erzählte, ging Mamma Carlotta derart zu Herzen, dass auch sie selbst von ihren Sorgen abgelenkt wurde. Was geschehen würde, wenn sie die ganze Nacht hier zubringen mussten, wenn Erik und die Kinder vergeblich auf sie warteten, wenn sie schließlich befürchten mussten, dass ihr etwas zugestoßen war, und die ganz Nacht nach ihr suchen würden …
    Nach dem Tod ihrer Adoptiveltern hatte Wiebke Juist verlassen. Nur gelegentlich war sie dorthin zurückgekehrt, hatte Urlaub auf Juist gemacht und sich eingeredet, dass sie dort wie jeder andere Tourist die Stille, die Natur, das Meer und den Strand genoss.
    »Ich wollte dort zu Hause sein, wo meine leiblichen Eltern gelebt hatten. Dort waren meine Wurzeln, da wollte ich hin.«
    »Haben Sie herausgefunden, woher Sie stammten?«, fragte Mamma Carlotta atemlos.
    Wiebke nickte. »Beim Jugendamt konnte man mir weiterhelfen. Von meinem Vater weiß ich zwar nichts, aber immerhin habe ich erfahren, dass meine Mutter zum Zeitpunkt meiner Geburt in Hamburg lebte. Dort liegt sie begraben, das weiß ich nun auch. Sie hatte noch ein weiteres Kind, einen Sohn, den sie ebenfalls nach der Geburt zur Adoption freigegeben hatte. Warum sie ihre Kinder nicht selber aufziehen wollte, konnte mir niemand sagen. Ich habe auch keine Verwandten gefunden. Irgendwann habe ich mich einer Selbsthilfegruppe angeschlossen. Erwachsene Adoptivkinder, die ihre Herkunftsfamilien suchten! Dort habe ich den Chefredakteur der Mattino kennengelernt. Auch er suchte seine leiblichen Eltern. Aber er hat sie nie gefunden. Inzwischen hat er die Suche aufgegeben.« Nun sah sie auf und blickte Mamma Carlotta in die Augen. »Können Sie sich vorstellen, wie das ist? Wie Treibgut zu sein, das zufällig irgendwo angespült wurde? Ich habe in der Selbsthilfegruppe von einem Mann erfahren, der seine leiblichen Geschwister ausfindig gemacht und dann umgebracht hat, weil die es bei ihren Adoptiveltern besser gehabt hatten als er, der geschlagen und missbraucht worden war. Drei Geschwister! Die Polizei hat lange gebraucht, um das Motiv zu erkennen, das hinter diesen Morden steckte!«
    Mamma Carlotta schüttelte den schrecklichen Gedanken ab, der sich an sie heranmachte. »Und Sie? Haben Sie versucht, Ihren Bruder zu finden?«
    Wiebke nickte. »Es hat lange gedauert. Zum Glück arbeitet der Leiter der Selbsthilfegruppe mit dem Jugendamt zusammen. Da gab es jede Unterstützung, die man sich wünschen konnte.« In einer plötzlichen Aufwallung beugte sie sich vor und legte den Kopf auf ihre Knie. »Es macht mich fertig, darüber zu reden. Ich kann nicht mehr!«
    Mamma Carlotta legte mitfühlend eine Hand auf ihren Rücken. Während sie mit ihr zusammen in dieser Enge ausharren musste, waren ihre Empfindungen für Wiebke Reimers von einem Ende der Gefühlsskala zum anderen gerast. Aus dem Misstrauen, das in ihr entstanden war, als sie Wiebke aus den Gärten am Dorfteich hatte flüchten sehen, war tiefes Mitleid entstanden, das wieder Platz machte für die Sympathie, die sie von Anfang an für sie empfunden hatte. Jetzt war sie davon überzeugt, dass Wiebke ihr erklären konnte, warum sie am Dorfteich gewesen war, und dann würde Mamma Carlotta sich wieder vorstellen können, dass sie Lucias Platz einnahm.
    »Ich muss Sie etwas fragen, Signorina … Gestern Vormittag, am Dorfteich, in der Nähe der Ferienwohnung, in der Dennis Happe wohnte …«
    Wiebke blickte auf. Aus ihren Augen waren Trauer und Schmerz verschwunden, angespannte Aufmerksamkeit schlug Mamma Carlotta entgegen. »Ja?«
    »Ich habe gesehen, wie Sie weggelaufen sind. Warum?«
    »Ich? Weggelaufen? Woher wollen Sie das wissen?«
    »Ich war in der Nähe.«
    »Warum?«
    Mamma Carlotta hatte Mühe, ihre Verlegenheit zu beherrschen.

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