Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
ausgemacht. Ich habe in absoluter Finsternis gesessen und geschrien und geweint. Sie müssen mich oben in der Wohnung gehört haben, aber niemand hat mich befreit. Erst, wenn die Zeit vorbei war, die meine Oma als Strafe festgesetzt hatte.«
Mamma Carlotta griff erschüttert nach Wiebkes Hand. »Kein Wunder, dass Sie Angst vor dem Eingeschlossensein haben.«
Auf Wiebkes Gesicht stahl sich ein Wohlgefühl, das Mamma Carlotta nicht behagte. »Vielleicht hat sie es bereut, bevor sie starb. Da ist es ihr selbst so ergangen.« Sie lauschte kurz auf das Stöhnen des Windes, auf sein Jaulen und die Stille zwischen den Böen, dann ergänzte sie: »An ihrem Todestag war es auch sehr stürmisch. Es würde eine Sturmflut geben, hieß es. Alle Juister haben ihr Hab und Gut gesichert, ins Haus geschleppt, was getragen werden konnte, und alles befestigt, was draußen bleiben musste. Oma kümmerte sich um die Strandkörbe. Keiner weiß, warum einer der schweren Körbe auf sie fiel. Sie war darunter eingeklemmt und konnte sich nicht mehr bewegen. Wenn sie geschrien hat, dann wurde sie von niemandem gehört. Es hat eine Weile gedauert, bis wir sie gefunden hatten. Zu spät! Sie lebte nicht mehr.«
Mamma Carlotta spürte den eiskalten Schauer auf ihrem Rücken. »Sie ist erstickt?«
Wiebke schüttelte den Kopf. »Der Arzt hat gesagt, sie wäre an Herzversagen gestorben. Die Angst hat sie getötet. Ich war noch jung, als sie mich in den Keller sperrte. Ich hatte die gleiche Angst, aber mein Herz hat sie ausgehalten.«
Mamma Carlotta brachte ausnahmsweise kein Wort mehr heraus. Madonna, was hatte diese junge Frau ertragen müssen! Und wie lange hatte ihre Nonna vergeblich auf Hilfe warten müssen! Mochte sie auch noch so hartherzig gewesen sein, so etwas hatte kein Mensch verdient.
»Sie hatte es verdient«, sagte Wiebke, als hätte sie Mamma Carlottas Gedanken gehört. Noch immer starrte sie auf einen Punkt vor ihren Füßen. »Ich habe mich immer gefragt, wie man einem Kind so etwas antun kann. Und warum mir meine Eltern nicht geholfen haben, wenn Oma mich in den dunklen Keller sperrte. Ob sie sich anders verhalten hätten, wenn ich ihr leibliches Kind gewesen wäre?«
Mamma Carlotta witterte ein Schicksal, über das man problemlos so lange sprechen konnte, bis Fietje Tiensch mit dem Dienst am Strand fertig war und kommen würde, um sie zu erlösen.
»Sind Sie … wie nennt man das, wenn ein Kind angenommen wird?«
»Adoption«, flüsterte Wiebke. »Sie haben mich als Baby adoptiert. Da wohnten sie noch in Norden, auf dem Festland. Dann sind sie mit mir nach Juist gezogen, weil mein Adoptivvater krank war und die Seeluft ihm guttat. Auf der Insel hat niemand gewusst, dass ich ein Adoptivkind war. Und meine Eltern haben es niemandem verraten. Auch mir nicht. Aber ich habe schon früh gespürt, dass sie mich nicht so liebten, wie meine Freundin von ihren Eltern geliebt wurde. Sie haben mir alles gegeben, was ich brauchte. Aber Liebe? Nein! Und dass ich rote Locken hatte, warfen sie mir ständig vor. Die waren in der Familie Reimers noch nie vorgekommen. Manchmal wurde auf Juist darüber getuschelt, dass ich ihnen nicht ähnlich sah, und wenn meine Mutter das mitbekam, musste ich mir anhören, dass aus mir nichts Anständiges werden könne, weil ich mit meinen Haaren für so viel Gerede sorgte. Ich war immer schuld! An allem! Sogar wenn Sturm aufkam, wurde ich angesehen, als wäre ich ungehorsam gewesen, und meine Eltern müssten nun unter der Strafe des Himmels leiden.«
Mamma Carlotta war voll des Mitleids und vergaß darüber die merkwürdigen Todesumstände von Wiebkes Großmutter. »Wann hat man Ihnen erzählt, dass Sie ein Adoptivkind waren?«
»Nie!« Diese Silbe spie Wiebke vor ihre eigenen Füße wie ein verdorbenes Stück Fleisch. »Erst als sie tot waren, als ich ihren Nachlass ordnen musste, da bin ich auf die Adoptionspapiere gestoßen.«
Mamma Carlotta fiel prompt die Geschichte einer Familie in Città di Castello ein, die drei Kinder adoptiert hatte und nur deswegen aus Rom weggezogen war, damit niemand den Kindern verraten konnte, dass sie als Babys adoptiert worden waren. Aber sie kam nicht dazu, von den Fulghonis zu berichten. In Wiebke waren nun Schleusen geöffnet worden, sie konnte nicht aufhören zu erzählen. Von den Stunden, die sie vor dem Grab ihrer Eltern verbracht und vergeblich gefragt hatte, woher sie stammte und warum sie ihr Adoptivkind nicht so hatten lieben können, dass die kleine Wiebke
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