Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
ihm. »Der Sturm wird heftiger«, sagte er. »Die Kinder sind mit den Rädern nach Kampen gefahren, um Unterschriften zu sammeln. Die werden kräftig in die Pedale treten müssen.«
»Und Ihre Schwiegermutter?«, fragte Sören.
»Die ist hoffentlich schon mit ihren Unterschriftenlisten zurück und kümmert sich ums Abendessen.«
M amma Carlotta zog die Füße an, damit Wiebke in dem kleinen Raum ein paar winzige Schritte hin und her gehen konnte. Die Bewegung schien ihr gutzutun, während Mamma Carlotta bei der Ansicht blieb, dass ein interessantes Gespräch die Zeit schneller verstreichen ließe als dieses sinnlose Hin und Her.
»Mein Schwiegersohn wird mich bald vermissen«, versuchte sie es noch einmal. »Und dann wird er mich suchen.«
Wiebke sah sie spöttisch an. »Sie haben mir doch schon verraten, dass er von Ihren Besuchen in Käptens Kajüte nichts weiß. Er wird Sie eher im Watt als in dieser Imbissbude suchen.«
Damit hatte sie das ausgesprochen, was Mamma Carlotta bisher nur heimlich befürchtet hatte. Niemand vermutete sie in Käptens Kajüte. Nur einer …
»Fietje Tiensch wird nach Feierabend zurückkehren!«
Wiebke lachte bitter. »Und wie soll er hier reinkommen? Käptens Kajüte ist verschlossen, Signora!«
»Wenn wir rufen und schreien, wird er uns hören.«
Wiebke setzte sich wieder auf ihren Ölkanister. »Na, dann fangen Sie mal an. Vielleicht hört Sie jemand, der die Polizei verständigt. In der Zwischenzeit können Sie sich überlegen, wie Sie es Ihrem Schwiegersohn erklären. Ob er Verständnis dafür hat, dass Sie hier Currywurst und Kartoffelsalat verkaufen, während der Wirt von ihm verhört wird?«
»Wir dürfen nur um Hilfe rufen, wenn Fietje vor dem Haus steht!«
»Und woher wollen Sie das wissen? Dieser Strandwärter bekommt die Zähne nicht auseinander! Der wird angeschlurft kommen, feststellen, dass die Tür abgeschlossen ist, annehmen, dass Sie nach Hause gegangen sind, und dann weiterschlurfen in die nächste Kneipe. Nach uns rufen wird der nicht!«
Mamma Carlotta wusste, dass Wiebke recht hatte, aber sie war nicht bereit, jetzt schon klein beizugeben. »Vielleicht sieht er mein Fahrrad.«
Wiebkes Stimme wurde immer spöttischer. »Sie meinen das Rad, das Sie hinter dem Möbelwagen versteckt haben?«
»Der ist bestimmt längst weggefahren.« Mamma Carlotta sah auf ihre Armbanduhr. »Noch eine Stunde! Dann wird Fietje hier auftauchen. Und wir müssen versuchen, ihn auf uns aufmerksam zu machen. Die Mauern von Käptens Kajüte sind nicht dick. Wir haben die Kinder rufen hören. Also wird Fietje uns ebenfalls hören.«
Mamma Carlotta blieb bei ihrer bewährten Strategie. Ihr ganzes Leben lang hatte sie es so gemacht. Angst und Sorgen beiseiteschieben, bis sie sich in Luft aufgelöst hatten.
»Eine Frau in unserem Dorf, Signora Penzo, lebt ständig in Angst. Sie hat Angst vor Einbrechern, vor Autos, vor Hunden und vor Krankheit und Tod sowieso. Und was passiert? Während sie Einkäufe erledigt, wird ihr Haus von Dieben ausgeräumt, später wird ihr Mann von einem Auto angefahren und ist seitdem berufsunfähig, und ihre Tochter wird von einem Hund gebissen und kurz darauf von ihrem Verlobten verlassen. Gesund und lebendig ist Signora Penzo zwar noch, aber das wird nicht mehr lange gut gehen. Sie hat das Unglück ständig herbeigeredet. Kurz bevor ich nach Sylt fuhr, taten ihr die Knie weh. Wetten, dass sie, wenn ich zurückkomme, Rheuma oder Arthrose hat? Wer immer negativ denkt, der wird auch Negatives erleben!«
»Küchenpsychologie!«, stieß Wiebke hervor.
Mamma Carlotta verzichtete darauf, nach einer Erklärung für diese unbekannte Vokabel zu fragen. Wiebkes Tonfall hatte das Wort schon ausreichend erklärt. Sie betrachtete die junge Frau nachdenklich. Das Fröhliche, Strahlende, Unkomplizierte war von Wiebke Reimers abgefallen. Oder hatte Mamma Carlotta das alles nur in ihr gesehen, weil sie hoffte, dass sie Erik gefallen würde? Damit er sich nicht mehr von Corinna Matteuer umgarnen ließ? Vielleicht war es aber auch das Eingesperrtsein, das Wiebke so veränderte. Obwohl es kalt war in diesem Raum, stand ihr der Schweiß auf der Oberlippe, ihre Hände zitterten, ihr Blick war unstet, sie wirkte wie ein gehetztes Tier, das in eine Falle geraten war und um sein Leben fürchtete.
»Gut, dass wir Licht haben«, flüsterte Wiebke. »Meine Oma hat mich früher oft in den Keller gesperrt. Damit ich zur Vernunft kam, wie sie sagte. Und dann hat sie das Licht
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