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Kurschatten: Ein Sylt-Krimi

Kurschatten: Ein Sylt-Krimi

Titel: Kurschatten: Ein Sylt-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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wirst frieren und dich erkälten.«
    Felix erschien in der offenen Tür und zählte auf, wovor seine Nonna ihre Enkel jeden Morgen warnte, wenn sie zur Schule aufbrachen: »Blasenentzündung, Bronchitis, Halsschmerzen, Lungenentzündung …« Er streckte ihr einen grellgelben Schal hin. »Den leihe ich dir. Dann schaut jeder nur auf den Schal und nicht auf Papas alte Jacke.«
    Zögernd nahm Carlotta ihn entgegen. »Wie kommst du an einen gelben Schal!? Das ist was für Mädchen!« Und da sie gerade beim Thema war, ergänzte sie noch: »Ohrringe sind übrigens auch was für Mädchen. Und lange Haare und ein Pferdeschwanz erst recht!«
    Aber Felix winkte lachend ab. »Ein gelber Schal ist cool. Ein Ohrring ist supercool und ein Pferdeschwanz absolut hip. Du hast keine Ahnung, Nonna!« Er lächelte sie an, als wollte er sie trösten. »Aber keine Sorge, sobald ich Formel-1-Pilot bin, lasse ich mir eine Glatze schneiden. Dann passt der Helm besser.«
    Pfeifend zog er sich in sein Zimmer zurück, während Mamma Carlotta ihre Enkelin hilflos ansah. »Warum trägst du nicht mal einen gelben Schal, Carolina? Und Ohrringe sähen sicherlich auch hübsch aus.«
    Aber auch Carolin winkte ab. »Ich mag es lieber dezent. Als Politikerin überzeugt man nicht durch bunte Kleidung, sondern durch seriöse Argumente. Und ein Loch ins Ohr stechen lassen? Nie im Leben!« Sie hob die Mundwinkel, so wie ihr Vater es tat, wenn er amüsiert war. »Im Übrigen hat Felix recht. Der gelbe Schal ist genau richtig für dich.«
    Ein paar Stunden später stieg Carlotta Capella an der Seite ihres Schwiegersohns die Treppe zur Kurpromenade herab, zupfte den gelben Schal ein letztes Mal zurecht und ärgerte sich nur ganz kurz darüber, dass der Wind in ihre Locken fuhr und Carolins Bemühungen zunichtemachte. Von da an überwog die Freude auf das, was sie erwartete.
    »Un concerto, Enrico! Noch nie habe ich ein richtiges Konzert gehört! Nur wenn in Panidomino der Kirchenchor auftritt oder die Enkelkinder von Signora Finocchiaro am Heiligabend in der Kirche Gitarre spielen und singen.«
    Erik nahm ihre Hand und drückte sie kurz, was Mamma Carlotta ganz atemlos machte. Eine ungeheure Gefühlsaufwallung, die sie am liebsten mit einer herzlichen Umarmung beantwortet hätte! Aber sie wusste längst, dass sie sich, wenn es um Emotionen ging, zurückhalten musste. Erik mochte es nicht, wenn ihm Zuneigung deutlich gezeigt wurde, und hätte sich verschlossen wie eine Auster, wenn ihre Freude über diese winzige Geste ausgeufert wäre.
    Sie nahmen auf einer der weißen Bänke Platz, die gegenüber der Konzertmuschel nicht auf Beinen, sondern mit der Sitzfläche auf Betonstufen angebracht waren. Erik hatte zwar vorgeschlagen, bis zum Konzertbeginn auf der Kurpromenade spazieren zu gehen, aber Mamma Carlotta wollte nichts riskieren und sich rechtzeitig einen guten Platz sichern. Es war ja nicht zu übersehen, dass es viele gab, die das letzte Konzert des Kurorchesters hören wollten, das in dieser Saison gegeben wurde.
    Sie genoss die Situation mit allen Sinnen. Die Dunkelheit war eingebrochen, sie hatte das Meer schwarz gefärbt und den Strand beinahe unsichtbar gemacht. Ein besonders dunkler Abend, der durch die beleuchtete Kurpromenade nicht heller wurde. Jedes Licht schien nur den Kreis zu beleuchten, in dem es stand, schaffte es nicht, in den Himmel aufzusteigen. Und still war er auch, dieser Abend! Die Stimmen flogen in den Wind, wurden mitgerissen, kaum dass sie erklungen waren. Aber auch ein stiller Abend auf Sylt war nie lautlos. Das Meer, das Donnern der Brandung und der Wind gehörten zur Stille dazu.
    Das Kurorchester, das aus neun Musikern bestand, tat sein Bestes, am Ende der Saison bei den Kurgästen einen guten Eindruck und die Vorfreude auf die Konzerte im Frühjahr zu hinterlassen. Der Dirigent brachte alles zu Gehör, zu dem im Rhythmus geklatscht werden konnte. Strauß-Walzer gehörten dazu, die Mamma Carlotta kaum auf dem Sitz hielten, Roberto-Blanco-Hits, die sie allesamt kannte, und eine Melodie von Herbert Grönemeyer, die sie zwar nicht kannte, aber genauso wunderbar fand wie alle anderen. Als es aufs Ende zuging, Mamma Carlotta enthusiastisch den Radetzky-Marsch mitklatschte und immer wieder versuchte, auch Erik zu einer minimalen Gefühlsregung zu bewegen, kam Wind auf. Schaumkronen zeigten sich auf dem schwarzen Wasser, die Lichter begannen zu schwanken, die Zuhörer und auch die Spaziergänger auf der Kurpromenade banden sich die

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