Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
Brust. Er erklomm zwei, drei Stufen der Leiter, ohne auf Erik zu achten, und hatte damit freie Sicht auf die tote Frau. Während er Fotos aus unterschiedlichen Perspektiven schoss, fragte er Wiebke: »Von welcher Zeitung sind Sie?«
»Mattino« , gab Wiebke kurz angebunden zurück.
Zufrieden betrachtete Koopmann das Display seiner Kamera. »Wann kann ich erfahren, wer die Tote ist?«
»Überhaupt nicht!«, brummte Erik. »Sie können mich in Ruhe lassen. Das war’s! Ich tu jetzt meine Arbeit und möchte dabei nicht gestört werden.«
Koopmann wollte noch etwas sagen, aber Mamma Carlotta schob sich zwischen den Chefredakteur und ihren Schwiegersohn. Auch wenn sie Eriks Foto am nächsten Tag gerne im Inselblatt gesehen hätte, erklärte sie sich mit einem Familienmitglied selbstverständlich immer solidarisch. Tatsächlich ließ sich Menno Koopmann einschüchtern und zog sich zurück.
»Nur eins noch, Wolf«, hörte sie ihn brummen. »Wenn die Mattino mehr erfährt als das Inselblatt, können Sie was erleben!«
D er Hausmeister betrat vor Erik den Aufzug. Er war ein vierschrötiger Mann von ungefähr sechzig Jahren, der nicht an Aufregung gewöhnt war. Dieses Ereignis schien ihn völlig aus der Bahn zu werfen. »Selbstmord?«, stöhnte er immer wieder. »Das hatten wir in diesem Haus noch nie.« Er drückte zweimal auf den falschen Knopf, sodass sie zunächst in der zweiten, danach in der vierten und erst dann in der zwölften Etage ankamen. »Ganz unauffällige Damen. Sehr zurückgezogen und selten bereit für ein Schwätzchen, aber sonst … einwandfrei!«
Eriks Gedanken kreisten nur um eine Frage. Wer würde ihnen die Tür öffnen? Corinna oder Matilda?
Der Hausmeister atmete tief ein und aus, ehe er den Daumen auf den Klingelknopf legte. Auf sein erstes Läuten reagierte niemand. Er versuchte es ein zweites und drittes Mal, dann knackte es in der Sprechanlage. Eine verschlafene Stimme fragte: »Wer ist da?«
»Heino Hansen, der Hausmeister! Tut mir leid, die späte Störung. Aber … es ist was passiert. Können Sie bitte aufmachen?«
»Um diese Zeit?«
Erik schob den Hausmeister zur Seite und beugte sich zu dem kleinen Lautsprecher neben der Wohnungstür. »Kriminalpolizei Westerland! Bitte öffnen Sie!«
Es blieb eine Weile still, dann sagte die Stimme: »Also gut. Aber Sie werden mir hoffentlich gestatten, mich erst anzuziehen.«
Es knackte in der Sprechanlage. Erik ging zum Fenster des Hausflurs und blickte hinaus, um sich zur Ruhe zu zwingen. Dann wandte er sich an den Hausmeister. »Sie können ruhig wieder in Ihre Wohnung gehen. Wenn ich Fragen habe, melde ich mich bei Ihnen.«
Heino Hansen machte einen sehr erleichterten Eindruck. Eilig, als hätte er Angst, Erik könnte es sich anders überlegen, bestieg er wieder den Aufzug. Erik lauschte auf das Surren, konnte hören, wie der Aufzug tief unter ihm hielt. Dann trat Stille ein. Im Haus war alles ruhig, und auch hinter der Tür bewegte sich nichts. Erik trat von einem Bein aufs andere. Wie lange sollte er hier warten?
Dann endlich drehte sich ein Schlüssel im Schloss, die Wohnungstür schwang auf. Als er der Frau gegenüberstand, die ihm geöffnet hatte, musste er schlucken. »Corinna?«
Natürlich war die Frage überflüssig. Sie war es, Corinna! Gut zwanzig Jahre älter, aber dennoch unverändert. Ihr Gesicht noch genauso schmal, ihre Figur so schlank wie damals. Die Konturen ihres Gesichtes waren schärfer geworden, ein paar Fältchen hatten es strenger gemacht, aber Erik war sich bewusst, dass er selbst sich stärker verändert hatte als Corinna.
Sie hatte die Haare am Hinterkopf festgesteckt, wie sie es schon früher gern getan hatte. Der Hausanzug aus schwarzem Samt war eine legere, ungezwungene Bekleidung, wirkte aber dennoch gepflegt und elegant. Auch da hatte sich nichts verändert. Corinna war immer auf ihr Äußeres bedacht gewesen, ganz anders als Matilda. Selbst Freizeitkleidung hatte sie getragen wie andere ein Ballkleid, Farben und Schnitte waren immer perfekt aufeinander abgestimmt gewesen. Diesen Hausanzug musste sie sich eilig übergeworfen haben, dennoch passten die silbernen Ballerinas perfekt zu dem Strassornament, das sowohl die Jacke als auch die Hose zierte. So war es schon immer gewesen: Corinna, die Elegante, Modebewusste, die sich nie gehen ließ, Matilda, die Legere, die auf angemessene Bekleidung pfiff und sich nie abgemüht hätte, aus ihren Haaren eine Frisur zu machen.
Corinna sah ihn mit großen Augen an,
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