Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
beobachtete, wie er ihn einsteckte, sagte aber nichts dazu.
»Ich brauche Vergleichsmaterial«, erklärte Erik sanft.
»Warum?« Corinna war anscheinend nicht mehr bereit, sich einreden zu lassen, dass es sich um dienstliche Routine handelte. »Meine Schwester hat sich umgebracht. Das beweist doch ihr Abschiedsbrief.« Sie tippte auf Eriks linke Brust, wo er den Brief hatte verschwinden lassen. »Sie hat ihn selbst geschrieben. Ich kenne ihre Schrift. Warum also nimmst du den Brief mit?« Sie zeigte auf die offene Balkontür. »Und was soll das?«
Erik blieb nichts anderes übrig, als ihr von Dr. Hillmots Beobachtungen zu erzählen. Und wie er befürchtet hatte, schaute sie ihn so entsetzt an, dass er nicht umhinkonnte, sie in seine Arme zu ziehen und ihren Kopf an seine Brust zu betten. »Es ist wirklich nur Routine«, murmelte er in ihr Haar. Dann fiel sein Blick auf Sörens erstauntes Gesicht, und er schob sie sanft von sich weg.
Sören machte einen Schritt auf Corinna zu, als wollte er die kurze Innigkeit zwischen seinem Chef und der Investorin unterbinden. »Hat noch jemand einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung?«, fragte er.
Sie starrte ihn an, als verstünde sie seine Frage nicht. Dann schien ihr aufzugehen, warum Sören fragte. »Sie meinen … jemand wäre hier eingedrungen und hätte …?« Sie war unfähig, den Satz auszusprechen.
»Nur Routine«, warf Erik erneut ein.
»Sie haben ausgesagt, dass Sie geschlafen haben«, vergewisserte sich Sören, »als Ihre Schwester vom Balkon stürzte.«
Corinna nickte. »Ich gehe immer zeitig schlafen, weil ich morgens früh raus muss.«
»Also könnte jemand unbemerkt in die Wohnung gekommen sein«, sagte Sören. »Jemand, der einen Schlüssel hatte.«
»Der Hausmeister hat natürlich einen Schlüssel«, überlegte Corinna und ergänzte sofort: »Aber der kommt nicht infrage. Allerdings … Matilda hat ihren Schlüssel zweimal verloren. Wir mussten jedes Mal einen neuen anfertigen lassen.«
Erik dachte kurz nach. »Trug sie ein Schild am Schlüssel? Ich meine … könnte jemand, der den Schlüssel gefunden hat, erkennen, dass er zu diesem Apartment gehörte?«
Corinna schüttelte den Kopf. »Nein, es war ein Schlüssel wie tausend andere.«
»Kann es sein, dass er ihr gestohlen wurde?«, fragte Sören.
Erik sah, dass Tränen in Corinnas Augen stiegen. Am liebsten hätte er sie wieder in seine Arme gezogen.
Corinna zuckte die Schultern. »Ja, möglich … ich weiß es nicht.« Sie schluckte die Tränen hinunter und gab sich Mühe, die sachliche, kopfgesteuerte Investorin zu sein, die jeder kannte. Ihr Gesicht verschloss sich, hinter ihrer Miene war die Trauer um ihre Schwester mit einem Mal verschwunden. Erik erinnerte sich, wie ehrgeizig sie als junges Mädchen gewesen war, aber trotz des erkennbaren Wunsches, immer die Beste zu sein, hatte sie doch nie aufgehört zu lachen. Heute schien das anders zu sein. Entweder hatte das Leben sie zu dem gemacht, was sie war, oder ihr Mann. Er schien skrupellos gewesen zu sein und nur auf seinen Vorteil bedacht. Vermutlich hatte sich Corinna unter seinem Einfluss verändert.
Sie warf Sören einen Blick zu, ehe sie zu Erik sagte: »Es wäre mir lieb, wenn sich nicht herumspräche, was Matilda getan hat. Das würde die Aggression der Bevölkerung gegen Matteuer-Immobilien noch weiter schüren.«
Erik brauchte Sören nicht anzusehen, um zu wissen, was er davon hielt. Also nickte er, als wäre sein Assistent gar nicht anwesend.
»Und letztlich änderte es doch nichts, wenn alle wissen, was Matilda getan hat«, fuhr Corinna fort. »Nur ich müsste es ausbaden.«
Mit einem Seufzen ließ sie sich vornüber sinken und von Eriks Armen auffangen. Das Erstaunen auf Sörens Miene wich nun einer Erkenntnis, die Erik erst recht nicht dort sehen wollte.
In diesem Moment klingelte es, und Erik war froh, sich von Corinna lösen zu können. »Soll ich öffnen?«
Sie nickte. »Der Typ vom Inselblatt hat schon mal angerufen. Wenn der es ist, schick ihn weg.«
Aber es war eine junge Frau mit roten Locken, die vor der Tür stand. Um den Hals hatte sie einen bunten Schal gewickelt, der ihre Augen zum Lachen brachte, obwohl sie sich bemühte, seriös zu wirken.
Als sie Erik erkannte, war Schluss mit dem Ernst. »Was machen Sie denn hier, Herr Wolf?«
»Das Gleiche könnte ich Sie fragen.«
»Ich bin mit Frau Matteuer verabredet.«
Erik ließ Wiebke Reimers herein und ging ihr ins Wohnzimmer voraus. »Die Dame von der Mattino!
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