Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
intensive Blick, mit dem Corinna ihren Schwiegersohn bedacht hatte, war ihr nicht entgangen. Ebenso wenig, dass es Erik nicht gelang, seine Augen von ihren zu lösen.
»Wir müssen in deine Wohnung«, hatte er gesagt. »Fühlst du dich stark genug?«
»Was willst du dort?«, hatte Corinna zurückgefragt.
»Es gibt noch ein paar Spuren zu sichern.«
Ungeduldig hatte Erik gewartet, bis Corinna mit dem Frühstücken fertig war, dann hatte er ihr in den Mantel geholfen. Das Augenzwinkern, mit dem sich Corinna Matteuer von ihr verabschiedete, hatte Mamma Carlotta gar nicht gefallen. Nein, sie wollte keine Kumpanei mit dieser Frau, und sie wollte auch nicht, dass sie ihr gönnerhaft das Bistro für ihren Neffen überließ. Vielleicht würde sie den Kindern doch gestehen müssen, dass sie für Niccolò einen Besuch im Baubüro gemacht hatte. Und ihren Neffen würde sie anrufen und behaupten, seine Bewerbung sei abgelehnt worden. Wenn sie das geklärt hatte, konnte Corinna Matteuer ihr so lange zuzwinkern, wie sie wollte! Aber … ob sie das schaffte? Und wenn sie es schaffte … ob diese Ehrlichkeit den Kindern gegenüber zu einem guten Ende führte und die Notlüge Niccolò dazu brachte, sich in Assisi nach einem neuen Restaurant umzusehen? Mamma Carlottas Optimismus, der kurz aufgeflackert war, fiel wieder in sich zusammen. Die Angst, dass Niccolò durch ihre Schuld im Zirkus enden würde, wurde immer größer. Zwar war er vermutlich nicht mehr jung genug, um an einem Trapez unterm Zirkuszelt sein Leben zu riskieren, aber er hatte andererseits jahrelang trainiert und war deshalb sehr gut in Form. Einmal in der Woche kraxelte er von außen den Kirchturm hoch, was früher alle Nachbarn auf die Piazza gelockt hatte, heute aber kaum noch jemanden aufblicken ließ, weil alle daran gewöhnt waren. Und dass er, kaum dass seine Frau die Wäsche abgenommen hatte, von einem Pfosten zum anderen über die Leine lief, regte auch niemanden mehr auf. Es war also möglich, dass irgendein kleiner Wandzirkus, dem gerade ein Artist ausgefallen war, froh über Niccolòs Bewerbung war.
Zum Mittelweg, wo Ludo Thöneßens Squashcenter lag, war es nicht weit. Der Weg führte zwar nicht direkt an Käptens Kajüte vorbei, aber es bedeutete nur einen kleinen Umweg, wenn sie sich entschloss, an Toves Theke einen Cappuccino zu trinken, ehe sie zum Squashcenter fuhr, um mit den anderen Mitgliedern der Bürgerinitiative an den Plakaten für die Demo zu arbeiten. Vielleicht war Tove Griess ja doch noch für die Ziele von »Verraten und verkauft« zu erwärmen. Es kam auf jeden einzelnen Sylter an! Je mehr auf die Straße gingen und den skrupellosen Investoren den Kampf ansagten, desto besser!
Tove schien gleich zu ahnen, dass Mamma Carlotta nicht nur einen Cappuccino, sondern auch eine Zusage von ihm haben wollte. Angewidert spuckte er den Zahnstocher, den er im Mund hatte, vor seine eigenen Füße. »Wenn Sie wegen dieser blöden Demo hier sind, dann können Sie Ihren Cappuccino auch im Kliffkieker trinken. Ich geh da nicht mit hin.«
»Ich auch nicht«, sagte Fietje, der an seinem Stammplatz hockte und wie immer ein Glas Jever vor sich hatte. »Jawoll!«
Mamma Carlotta ereiferte sich. »Wie kann man nur so stur sein? Ist es Ihnen denn ganz egal, was aus Ihrer Insel wird?« Sie sah erst den einen, dann den anderen streng an. Tove hielt ihrem Blick stand, Fietje wurde immerhin verlegen und starrte in sein Bier.
»Diese Investoren setzen sich über Gesetze hinweg, über dieses …« Ärgerlich schlug sie mit der Hand auf die Theke, weil ihr das beeindruckende Wort nicht einfallen wollte, das ihre Enkelin Corinna Matteuer entgegengeschleudert hatte. »Jedenfalls haben sie den Syltern weisgemacht, dass in Braderup nur ein Gesundheitshaus gebaut wird. Von dem großen Hotel und dem riesigen Parkhaus hat keiner was gesagt. Und das direkt am Naturschutzgebiet!« Sie schlug noch einmal mit der Hand auf die Theke, sodass die beiden künstlichen Usambaraveilchen in ihren Töpfchen wackelten.
»Das haben Sie uns schon mal erzählt«, stöhnte Tove. »Wenn Sie versprechen, endlich damit aufzuhören, geht der Cappuccino aufs Haus.«
Mamma Carlotta warf den Kopf in den Nacken. »Ich bin nicht käuflich«, verkündete sie und wandte sich dann an Fietje. »Allora, was sagen Sie dazu? Finden Sie es auch nicht wichtig, dass man Ihre Insel mit Hotels und Parkhäusern zubaut, die kein Mensch braucht? Und dass die Sylter auf ihrer eigenen Insel nicht mehr ihr
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