Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
Wiebke in seine Arme zog, kam eine wunderbare Gleichgültigkeit über ihn. Nicht einmal das Staunen darüber, dass er im Dienst zu so etwas fähig war, rührte ihn mehr und auch nicht die Sorge, dass jemand auf den Flur treten könnte.
In diesem Augenblick klingelte es. Wiebke löste sich von ihm, und er stellte fest, dass der Ernst noch immer in ihren Augen lag. Erst als er einen Schatten vor der Wohnungstür bemerkte, als ihnen klar wurde, dass sie nur ein, zwei Meter von einem fremden Besucher trennten und Corinna jeden Augenblick aus dem Wohnzimmer kommen konnte, stieg wieder das Lachen in ihre Augen. Ihr Mund jedoch blieb ernst, als sie einen Schritt zurücktrat.
Schritte aus dem Wohnzimmer näherten sich, Wiebke zurrte ihren Schal fester um ihren Hals, riss die Tür auf, ehe Erik es tun konnte … und stand vor Menno Koopmann, der sie wütend anstarrte.
»Schon wieder die Mattino? «
I n der Sportlerklause war die Hölle los. Es gab viel zu wenig Platz für sämtliche Mitglieder der Bürgerinitiative und erst recht für deren Aktivitäten. Jacqueline war schließlich auf die Idee gekommen, die Squashcourts zu öffnen, damit dort die Plakate gemalt werden konnten, die bei der Demo vors Baubüro von Matteuer-Immobilien getragen werden sollten. Als Mamma Carlotta ankam, war die Arbeit schon in vollem Gange. An den Tischen saßen die älteren Mitglieder, vornehmlich männliche, und redeten sich die Köpfe heiß. Ihre Frauen sorgten für belegte Brötchen, und wer gerade nichts zu tun hatte, überlegte, wo eigentlich Ludo Thöneßen sei. Dass Jacqueline darauf keine Antwort gab, fiel niemandem auf. Auch dass sie sehr bedrückt wirkte, bemerkte keiner.
Mamma Carlotta hatte noch nicht viel Gelegenheit gehabt, sich mit den Mitgliedern von »Verraten und verkauft« bekanntzumachen, aber das holte sie rasch nach. Schon nach wenigen Minuten wussten die Herren hinter ihren Biergläsern, dass sie neuerdings ein italienisches Mitglied hatten, und die Frauen hatten gehört, dass man in Italien bei solchen Anlässen keine belegten Brote, sondern Bruschette und Crostini anbot. »Aber im Grunde ist das nicht viel anders.«
Mamma Carlotta wollte gerade anfangen, von ihrer deutschen Nachbarin zu erzählen, der sie einen großen Teil ihrer Deutschkenntnisse verdankte, da fiel der Postbotin, die zu den Gründungsmitgliedern von »Verraten und verkauft« gehörte, ein, dass es schon mal ein italienisches Mitglied der Bürgerinitiative gegeben hatte. »Jedenfalls beinahe. Der Vater von Freda Arnsen hatte einen Cousin, der mit einer Italienerin verheiratet war. Und immer, wenn Freda dort Urlaub gemacht hatte, sagte sie nicht mehr ›Bitte‹ und ›Danke‹, sondern ›Prego‹ und ›Grazie‹. Sie kam sich dann sehr weltläufig vor.«
Mamma Carlotta war höchst interessiert. Aber ihre Bitte, diese Freda kennenzulernen, um zu erfahren, in welchem Teil Italiens ihre Verwandten wohnten, wollte niemand erfüllen. »Freda ist aus der Bürgerinitiative rausgeworfen worden. Wir wollen nicht mehr, dass sie bei uns mitmacht.«
»Warum nicht?«, fragte Mamma Carlotta erschüttert.
Die Postbotin beugte sich zu ihr, als fiele es ihr schwer, Fredas Vergehen laut herauszusagen. »Stellen Sie sich vor … die wettert mit uns gegen Corinna Matteuer, wollte sich der Demo anschließen, hat sogar einen Schal umgetauscht, als ihr auffiel, dass Corinna Matteuer sich auf der Friedrichstraße den gleichen gekauft hatte …«
Mamma Carlotta war aufs Höchste gespannt. »Und dann?«
»Dann hat unser Vorsitzender herausgefunden, dass Freda bei Matteuer-Immobilien nachgefragt hat, ob sie ihre ergotherapeutische Praxis im neuen Gesundheitshaus einrichten kann.« Die Postbotin warf sich zurück, dass die Rückenlehne ihres Stuhls knirschte. »Gegen das Gesundheitshaus demonstrieren und dann, wenn alles umsonst gewesen sein sollte, dort einziehen und gutes Geld verdienen? Ist das nicht unerhört?«
Von allen Seiten wurde die Empörung der Postbotin unterstützt, einige nannten Freda Arnsen sogar eine Verräterin.
Selbstverständlich fiel Mamma Carlotta in die allgemeine Entrüstung ein, entzog sich jedoch so bald wie möglich, weil ihr angeblich gerade in diesem Moment auffiel, dass sie ihre Enkelkinder noch nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Nur weg! Weg von der Angst, dass es ihr ähnlich ergehen könnte wie dieser abtrünnigen Freda Arnsen. Weg von der schrecklichen Sorge, dass ihre Enkelkinder sie ebenfalls eine Verräterin nennen könnten.
»Die
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