Kurschattenerbe
gedachte.
Daraufhin war – wie Du Dir denken kannst – der Teufel los. Man hetzte die Polizei auf den Mann. Dem gelang es, das Bild, das ich in seinem Atelier zurückgelassen hatte, rechtzeitig verschwinden zu lassen. Hätte man es bei ihm gefunden, wäre er mit Sicherheit des Diebstahls bezichtigt und verhaftet worden. So aber konnte man ihm nichts nachweisen und man ließ von dem bis dato unbescholtenen Bürger ab.
Gleichwohl brachen meine Eltern den Aufenthalt in Meran umgehend ab und verfrachteten mich zurück auf die Krim. Durch eine List ist es mir vor meiner Abreise gelungen, meinen Liebsten aufzusuchen. Wir schworen uns ewige Treue. Das Bild ließ ich bei ihm zurück. Es war mein Versprechen an ihn, dass ich, sobald die Umstände es erlaubten, zu ihm zurückkehren würde. «
Kateryna sah auf. »Der Krieg hat alle Pläne zunichte gemacht. Ektarina, meine Urgroßmutter, hat ihren Liebsten nie wieder gesehen. Das Einzige, was ihr von ihm blieb, war die Miniatur, die er für sie anfertigte, und die Sie in meinem Medaillon gesehen haben.«
Jenny nahm einen Schluck von dem Zitronenwasser, das eine der Pflegerinnen zuvor gebracht hatte. Sie war wie betäubt, von dem was sie bisher gehört hatte. Da war ein Ritter aus Tirol, bei dem es sich vermutlich um Oswald von Wolkenstein handelte, eine junge, eigenwillige Frau, die sich nicht dem Willen ihrer Eltern beugte, und schließlich deren Urenkelin, Kateryna, die nach Meran gekommen war, um den letzten Willen ihrer Urgroßmutter zu erfüllen. Die Ereignisse, zwischen denen es einen Zusammenhang gab, zogen sich über sechs Jahrhunderte und drei Epochen: das späte Mittelalter an der Schwelle zur Renaissance, die Belle Époque – jene goldene Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs – und die Jetztzeit, das 21. Jahrhundert.
Von all den Fragen, die Jenny bestürmten, entschied sie sich, die zu stellen, die sie am brennendsten interessierte: »Wie hieß der Maler, in den sich Ihre Urgroßmutter verliebt hat?«
Kateryna faltete das Papier wieder zusammen und verstaute es in ihrer Handtasche. Mit ihren blauen Augen, die so klar wirkten wie ein Bergsee, sah sie Jenny an. »Der Maler, den meine Urgroßmutter heiraten wollte und dem sie das Bild anvertraute, hieß Peter Mitterer.«
DREIZEHN
»Ist der Ermordete demnach der Urenkel von diesem Peter Mitterer?«
Jenny und Lenz saßen einander erneut im Café an der Kurpromenade gegenüber. Sie hatte beschlossen, ihre Enttäuschung über den jungen Mann beiseite zu lassen, und ihn über die neuesten Entwicklungen zu informieren. Schließlich war sie kein verliebter Teenager, sondern eine erfahrene Geschäftsfrau, und er war Arthurs Assistent. Es lag in ihrer beider Interesse, Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Private Befindlichkeiten hatten außen vor zu bleiben.
Jenny hatte Lenz im Kurhaus, wo der Kongress weiterhin tagte, angetroffen und ihn um eine Unterredung gebeten. Er hatte das Kaffeehaus vorgeschlagen.
»Hab ich heute verschlafen und nicht gefrühstückt. Könnt ich das nachholen.«
Jenny mochte sich gar nicht erst den Grund für sein spätes Erwachen ausmalen. »Nicht sein Urenkel, sondern sein Urgroßneffe«, beantwortete sie Lenz’ Frage. »Peter Mitterer senior hat kriegsbedingt und aufgrund des anschließenden Ausbruchs der Revolution in Russland jegliche Hoffnung begraben, Ekaterina wiederzusehen. Er hat eine Frau aus der Gegend um Meran geheiratet, die das einzige Kind eines Weinbauer war. Gemeinsam übernahmen sie den Hof. Sie hatten zwei Söhne, die beide im Zweiten Weltkrieg fielen. Mangels direkter Nachkommen erbten die Kinder von Peters Bruder. Zum Schluss blieb nur noch der Urgroßneffe Peter Mitterer übrig. Er erbte nicht nur das Bauernhaus in St. Michaela, sondern auch das Maltalent seines Urgroßonkels.« Jenny nahm einen Bissen von dem Croissant, das sie sich bestellt hatte, und beobachtete Lenz, der sich ein Panino dick mit Butter bestrich und großzügig Marmelade darauf verteilte.
»Diesem Talent hatte der junge Peter Mitterer es offenbar zu verdanken, dass ihm sein Urgroßonkel kurz vor seinem Tod das Bild mit Oswald auf dem Fass anvertraut hat.« Jenny nahm einen Schluck von ihrem Lungo, dann fuhr sie fort: »Zumindest hat es sich laut Kateryna Maximowa so zugetragen.«
Lenz schob sich den Rest seines Marmeladebrötchens in den Mund. Nachdem er es mit einem großen Schluck Cappuccino hinuntergespült hatte, fragte er: »Woher weiß Kateryna das?«
In kurzen Zügen
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