Kurschattenerbe
unsichtbares Signal herbeigerufen erschien eine Pflegerin.
»Wir betreiben hier auch ein Altersheim«, sagte Kateryna beiläufig und fügte – an die dienstfertige junge Frau gewandt – hinzu. »Bitte bringen Sie uns frisches Wasser. Frau Dr. Sommer und ich sind durstig.«
Die Pflegerin nickte und zog sich wieder zurück. Kateryna nahm den Erzählfaden wieder auf. Jenny hatte mittlerweile ein Schwindelgefühl erfasst. Sie hatte kaum etwas gefrühstückt, war der Ukrainerin im Eiltempo gefolgt und saß nun seit geraumer Zeit in einem ziemlich vollgestellten und daher entsprechend stickigem Raum. Nur mit Mühe konnte sie dem monotonen Geplätscher von Katerynas Stimme folgen, dessen Inhalt sich im Wesentlichen wie folgt subsumieren ließ: Der Ritter hatte zum Dank für seine Rettung von einem Maler auf der Krim ein Bild mit dem Motiv des Schiffbrüchigen auf dem Fass anfertigen lassen. Da das Gemälde für den Transport nach Tirol vorgesehen war, wurde es vom Ausmaß her für damalige Verhältnisse eher gering dimensioniert und maß nur etwa 30 mal 40 Zentimeter. Ehe der Ritter abreiste, verliebte er sich in die Tochter seines Gastgebers, woraufhin er seine Pläne änderte: Er wollte zwar zunächst nach Tirol reisen, um dort seine Vermögensangelegenheiten zu regeln, versprach jedoch, so bald wie möglich wieder auf die Krim zurückzukehren und seine Liebste zu ehelichen. Als Unterpfand ließ er das Bild, das ursprünglich für den Transport vorgesehen war, im Hause des russischen Kaufmanns zurück.
»Oswald ist nicht auf die Krim zurückgekehrt«, sagte Jenny.
Kateryna lächelte versonnen: »In meiner Familie war nie von Oswald von Wolkenstein die Rede. Doch nach allem, was ich im Laufe meines Studiums gelernt habe, kann es sich bei dem Ritter aus Tirol nur um den berühmten Minnesänger gehandelt haben.«
»Haben Sie sich deshalb bereit erklärt, das Oswald-Symposium zu unterstützen?«, fragte Jenny.
»Das war einer der Gründe«, antwortete Kateryna und strich sich die sorgfältig geföhnten blonden Locken hinter die Schulter. Sie öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr ein Blatt vergilbtes Papier, entfaltete es und reichte es Jenny. Die warf nur einen flüchtigen Blick darauf. Auch ohne Lesebrille konnte sie erkennen, dass es sich um kyrillische Schriftzeichen handelte. Erwartete Kateryna, dass sie diese entziffern konnte?
Kateryna schien Jennys Verlegenheit bemerkt zu haben. Entschuldigen Sie bitte. Sie können mit dem Schreiben ja gar nichts anfangen. Wie nachlässig von mir.«
Sie nahm Jenny das Papier aus der Hand und begann nun – stockend, da sie ja nicht nur die Schrift entzifferte, sondern zugleich auch übersetzte – zu lesen:
» Liebe Kateryna,
die Zeiten sind schlimm geworden. Unsere einst so reiche und mächtige Kaufmannsfamilie fristet nun ein karges Dasein. Wie leicht könnte ich es mir machen, wenn ich mich damit tröstete, dass die politischen Verhältnisse daran schuld seien. Doch ich weiß es besser. Schuld bin einzig und allein ich, indem ich mich dem Willen der Eltern widersetzt und ein Unrecht begangen habe.
Wenn Du diese Zeilen liest, so halte mir bitte zugute, dass ich damals ein törichtes Mädchen war, das keine Ahnung vom Lauf der Welt hatte. Also höre dies: Meine Eltern wollten mich mit einem reichen russischen Kaufmann verheiraten, der auch in der russisch-orthodoxen Gemeinde in Meran ein hohes Ansehen genoss. Deshalb sollte anlässlich unserer Verlobung das Bild des Tiroler Ritters, das seit vielen Jahrhunderten in unserem Familienbesitz ist, der russisch-orthodoxen Kirche in Meran gespendet werden. Allein zu diesem Zweck haben meine Eltern das Bild im Frühjahr 1914 von der Krim nach Meran gebracht.
Ich habe mich dieser Heirat mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln widersetzt. Ich stahl das Bild und brachte es zu einem Kunstmaler, der damals in Meran en vogue war. Er sollte mir sagen, wie viel ich für das Bild erlösen könnte. Denn – und nun schäme ich mich wirklich, das einzugestehen – ich hatte vor, das Bild zu veräußern und aus dem Erlös meine Flucht zu finanzieren.
Doch daraus wurde nichts. Der Maler beschwor mich inständig, das Bild meinen Eltern zurückzugeben. Seine aufrechte Art und sein ansprechendes Äußeres faszinierten mich so sehr, dass ich mich Hals über Kopf in den jungen Mann verliebte. Obwohl er mir keinen Antrag gemacht hatte, erklärte ich meinen Eltern, dass ich ihn – und nur ihn allein – zu heiraten
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