Kurschattenerbe
berichtete Jenny, was sie von der Ukrainerin erfahren hatte. »Katerynas Urgroßmutter war in jungen Jahren eine starke und emanzipierte Frau. Sie war auch tief religiös – daran konnte selbst die sowjetkommunistische Regierung nichts ändern. Mit zunehmendem Alter verrannte sie sich in die Idee, dass ihr seinerzeitiges Verhalten in Meran schuld am Niedergang der Familie sei. Kateryna hatte ihr am Sterbebett versprochen, das Bild wiederzubeschaffen und es der russisch-orthodoxen Gemeinde in Meran, für die es bestimmt gewesen war, zurückzugeben.«
Lenz schob den Teller, den er bis auf den letzten Krümel leer gegessen hatte, von sich.
»Katerynas Urgroßmutter ist erst kürzlich gestorben?«
Jenny bemühte sich, ein Grinsen zu unterdrücken. Man musste kein Mathematikgenie sein, um auszurechnen, dass eine Frau, die 1914 im Alter von 18 gewesen war, vor Längerem das Zeitliche gesegnet haben musste – es sei denn, sie wäre 115 Jahre alt geworden. »Sie ist 1987 gestorben. Damals war Kateryna gerade von einem Auslandssemester in Leipzig zurückgekehrt – wo sie übrigens Arthur kennengelernt hat. Wenige Jahre nach dem Tod ihrer Großmutter zerfiel die Sowjetunion, die Ukraine wurde unabhängig.« Jenny rückte mit ihrem Sessel ein Stück vom Kaffeehaustisch ab und schlug die Beine übereinander, die in den roten Shorts steckten. Lenz stierte durch seine Brillengläser. Bildete sie es sich bloß ein oder starrte er tatsächlich auf ihre nackten Oberschenkel?
Am liebsten hätte sie augenblicklich damit begonnen, so lange am Stoff zu zupfen, bis ihre Blöße gänzlich bedeckt war. Sie war sich der Vergeblichkeit dieses Unterfangens jedoch bewusst. Daher stellte sie wieder die Beine nebeneinander und ruckelte so lange mit dem Sessel, bis dieser sich in seiner ursprünglichen Position nahe am Tisch befand.
»Solltest du dir lieber etwas Wärmeres anziehen. Könntest dich sonst erkälten«, sagte Lenz.
Daher wehte also der Wind. Zumindest konnte sie ihm keine unmoralischen Absichten unterstellen. Schade eigentlich, wenn sie es recht bedachte. »Mach dir keine Sorgen, es ist doch herrlich warmes Wetter«, sagte sie rasch.
Lenz betrachtete den Himmel über der Therme. Jenny folgte seinem Blick. Außer ein paar Schäfchenwolken trübte nichts das strahlende Blau.
»Täusch dich nicht«, sagte ihr Gegenüber. »Heute kommt was runter.«
Jenny tat seinen Hinweis mit einem Schulterzucken ab. Das Wetter war momentan ihre geringste Sorge.
»Ist ja sehr anständig von Kateryna, dass sie sich nach all der Zeit an ihr Versprechen erinnert«, nahm Lenz den Faden wieder auf.
Jenny senkte den Blick und starrte in ihre Kaffeetasse. Hatte Lenz das etwa ironisch gemeint? Oder war nur ihre eigene Skepsis daran schuld, dass sie mittlerweile die Flöhe husten hörte? Denn eines musste sie sich eingestehen: Es war seltsam, dass Kateryna sich nach so vielen Jahren plötzlich an das Vermächtnis ihrer Urgroßmutter erinnerte. Die Ukrainerin hätte nach Öffnung des Eisernen Vorhanges viel früher Gelegenheit gehabt, sich der Sache anzunehmen – wenn sie nur gewollt hätte. Warum also jetzt?
»Angeblich will sie ihre Unternehmen verkaufen und sich hier in Meran mit Tony und Sascha niederlassen. Das Bild hätte so eine Art Einstandsgeschenk an die russisch-orthodoxe Gemeinde sein sollen. Ich glaube, Kateryna hofft, von deren Einfluss profitieren zu können. Sie will sich hier eine Position aufbauen. Daher kam ihr auch das Oswald-Symposium sehr gelegen. Das Bild, das einen Ritter aus Tirol zeigt, bei dem es sich nur um Oswald handeln kann, wäre das Tüpfelchen auf dem i gewesen.«
Jenny machte eine Pause und dachte über ihre Worte nach. Sollte es wirklich wahr sein, dass Kateryna das Bild nur deshalb wiederbeschaffen wollte, um sich in der Stadt ein gutes Entrée zu verschaffen?
Laut ihren eigenen Erzählungen hatte sie keine Kosten und Mühen gescheut, um das Bild ausfindig zu machen. Schließlich hatte sie – »aus verlässlicher Quelle«, wie sie es ausdrückte – erfahren, dass Peter Mitterer, der Urgroßneffe des Geliebten ihrer Urgroßmutter, das Bild in seinem Besitz hatte. Man machte dem Maler aus Tirol ein großzügiges Angebot. Nach kurzem Feilschen einigte man sich: Peter Mitterer würde Kateryna das Bild, das ja genau genommen ihrer Familie gehörte, zurückgeben. Dafür sollte der Heimatmaler eine Entschädigung in sechsstelliger Höhe erhalten. Die Transaktion sollte am Abend des 28. Mai – also zwei
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