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Kurschattenerbe

Kurschattenerbe

Titel: Kurschattenerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Neureiter
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die Ukrainerin hinter all den Ereignissen? Vielleicht sollte sie besser die Beine in die Hand nehmen und auf der Stelle kehrtmachen. Sie befand sich ja quasi auf exterritorialem Gebiet.
    Jennys einander widerstreitende Gedanken hatten sie derart gefangen genommen, dass sie kaum merkte, wohin Kateryna sie führte. Sie hatten das Gebäude betreten und den Altarraum mit seinen Ikonen passiert. Nun standen sie in einer Bibliothek, in der sich Buchrücken an Buchrücken reihte. Jenny, die sich wieder einigermaßen gefasst hatte, schätzte die Zahl der Exemplare in den Regalen auf weit über tausend. An den Wänden hingen zahlreiche Fotografien. Es handelte sich eindeutig um historische Aufnahmen aus der Zeit der Belle Époque. Der Raum schien auf den ersten Blick voll von Büchern und Fotografien zu sein schien, aber beim genaueren Hinsehen fiel Jenny an einer Wand eine leere Stelle auf. Davor war Kateryna stehengeblieben.
    »Hier hätte es hängen sollen«, sagte sie und wies mit der Hand auf die kahle Stelle.
    Jenny verstand nicht. Bevor sie nachfragen konnte, begann Kateryna mit ihrem Bericht: Ihre Vorfahren waren Kaufleute auf der Krim gewesen, die es im zaristischen Russland zu Wohlstand und Ansehen gebracht hatten. Ihr Ururgroßvater, Alexej Ruschko, hatte ein besonders geschicktes Händchen bewiesen. Seine Geschäfte führten ihn bis nach St. Petersburg, damals im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, der Inbegriff von Eleganz und Chic. Dort lernte Sergej die wohlhabende Elena kennen und heiratete sie. Das Ehepaar lebte fortan auf der Krim. Doch Alexej scheute keine Kosten, um seiner Angetrauten auch in der Provinz das Leben einer großen Dame zu bieten. Kuraufenthalte in Meran, wie sie in der feinen St. Petersburger Gesellschaft gang und gäbe waren, gehörten dazu.
    So kam es, dass auch die Tochter des Paares, die kleine Ekaterina, in frühen Jahren Bekanntschaft mit dem ›Südbalkon der Alpen‹, wie man die Stadt an der Passer damals titulierte, machte.
    »Ekaterina war unkonventionell gewesen. Ein paar Jahrzehnte später hätte man sie wohl Emanze genannt«, unterbrach Kateryna ihre Erzählung und fuhr fort: Im Alter von 18 Jahren sollte Ekaterina verheiratet werden. Der Auserwählte war ein reicher russischer Geschäftsmann, der das Mädl bei einem seiner Kuraufenthalte in Meran erblickt und Gefallen an ihr gefunden hatte. Alexej und Elena fanden die Verbindung höchst wünschenswert. Dass der Gatte in spe 20 Jahre älter war als die designierte Braut störte niemanden – mit Ausnahme von Ekaterina. Die dachte gar nicht daran, dem Verlöbnis, das anlässlich des nächsten Kuraufenthaltes in Meran im Frühjahr 1914 verkündet werden sollte, zuzustimmen.
    »Ekaterina hat sich mit Händen und Füßen gewehrt. Ihre Eltern haben sie jedoch nicht ernst genommen«, sagte Kateryna. Es wurde alles vorbereitet. Die Verlobung sollte in Meran stattfinden. Im Herbst darauf die Trauung auf der Krim, wo das Paar auch seinen Wohnsitz nehmen sollte.
    Für die Morgengabe hatten sich Alexej und Elena etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Seit Generationen befand sich ein ungewöhnliches Bild im Besitz der Familie Ruschko: Es zeigte einen Mann, der ein Weinfass umklammert hielt und damit auf hoher See schwamm. Bei dem offensichtlich Schiffbrüchigen, der deutlich erkennbar nur ein Auge hatte, handelte es sich laut mündlicher Überlieferung um einen Ritter aus Tirol. Er war übers Schwarze Meer gesegelt. Das Schiff im Sturm zerschellte. Es gelang ihm, auf dem Weinfass treibend das Ufer zu erreichen. Doch der Ritter aus Tirol rettete nicht nur sich selbst, sondern auch einen Russen, der ebenfalls Schiffbruch erlitten hatte.
    »Die beiden waren die einzigen Überlebenden. Es heißt, dass der Russe den Ritter zum Dank dafür, dass der ihm geholfen hatte, in sein Haus auf der Krim einlud.«
    Jenny, die bisher wie gebannt zugehört hatte, unterbrach: »Das klingt ziemlich abenteuerlich. Doch es erklärt nicht, was es mit dem Medaillon auf sich hat.«
    »Bitte haben Sie ein wenig Geduld. Ich komme gleich darauf zurück«, sagte Kateryna und legte zum wiederholten Mal an diesem Tag ihre Hand auf Jennys Arm. Bevor sie allerdings ihren Bericht wieder aufnahm, meinte sie: »Sie sehen erschöpft aus. Darf ich Ihnen vielleicht eine Erfrischung anbieten?«
    Jenny, die langsam Mühe hatte, Katerynas weitschweifiger Erzählung zu folgen, bejahte. »Gerne«, antwortete sie, »ein Glas Wasser wäre mir am liebsten.«
    Wie durch ein

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