Kurt Ostbahn - Platzangst
gelben Memozetteln klebt. Der Doc hat mit Filzstift jene Seitenzahl notiert, die mich zu interessieren hat.
„Cola oder Tequila?“ fragt er auf dem Weg zur Küche.
„Ein Glasl Wasser, fürn Anfang“, sage ich. Der Doc dreht sich in der Tür um und zieht ungläubig die linke Augenbraue hoch.
„Mineral oder Leitung?“
„Wurscht“, sage ich.
Dann bin ich allein mit dem Dutzend bunter Hefte und weiß eigentlich nicht, warum ich unsere kostbare Zeit mit den Zeitgeistern von 1989 bis ‘94 verschwenden soll. Das Modemagazin zeigt ab der mir vom Doc ans Herz gelegten Seite 84 stramme Mädel und Buben in kunterbunten Fitness-Outfits. Da werden Räder und Purzelbäume geschlagen, Salti über Bock und Pferd, da wird am Hometrainer geradelt und am Reck der Felgaufschwung geübt. Und alles wäre blitzsauber, harmlos und kerngesund, hätte nicht irgendjemand die kranke Idee gehabt, die Fotomodelle ihre Turnübungen machen zu lassen, während sie paarweise mit Handschellen aneinandergefesselt sind.
Ab Seite 126 eines Lifestyle-Magazins vom März 1990 präsentiert ein Quartett lackhaariger und leichenblaß geschminkter Models unter dem Titel „Edelweiß“, nun ja, ich kann nicht genau sagen was.
Die an die eindringlichen Bergdramen des großen Luis Trenker erinnernden Schwarzweißfotos zeigen die vier bleichen Damen jedenfalls in alpiner Bedrängnis. Sie hängen, hoffnungslos in die Seile ihrer Kletterausrüstung verstrickt und den Blick auf das von Nebelschwaden umwölkte Gipfelkreuz gerichtet, in der Steilwand eines Ehrfurcht gebietenden Felsmassivs. Und das Quartett ist für eine solche Bergtour eindeutig nicht warm genug angezogen. Das derbe Schuhwerk mit den Steigeisen mag ja noch angehen, aber wer zum Gipfelsturm in schwarzen Seidenstrümpfen, Strapsgürtel, Höschen und Büstenhalter aus zarter Spitze antritt, muß ganz einfach mit Problemen rechnen. Und ich meine nicht nur die fingerbreite Laufmasche, die sich eine der vier bleichen Schönen während ihres Aufstiegs zugezogen hat. Ihre Kolleginnen haben die luftige Unterwäsche mit bodenständiger Tracht kombiniert, mit weit dekoltierten Dirndlblusen und äußerst knapp sitzenden Krachledernen, aber auch das Kleinbißchen mehr an bergtauglicher Bekleidung wird sie nicht vor einer ordentlichen Verkühlung, wenn nicht gar einer Lungenentzündung bewahrt haben, falls sie überhaupt je den Weg zurück ins Tal oder zumindest zur nächsten Hütte gefunden haben.
„In dieser Phase eine seiner eindrucksvollsten Arbeiten“, platzt der Doc, ein Glas Wasser und eine Dose Diät-Cola in Händen, in meine Überlegungen.
„Kitzsteinhorn?“ frage ich, weil mir der Bergesriese auf den Fotos irgendwie bekannt vorkommt.
„Frido Knapp“, sagt der Doc und drückt mir das Glas Leitungswasser in die Hand. „Guter Mann. Brilliant. Auf seine Weise. Hat als erster in diesem Land erkannt, daß der Fetischismus die prägende sexuelle Spielart der neunziger Jahre sein wird. Jeder hat seine Obsessionen, Kurt. Aber selten einer versteht es, sie auf einem dermaßen hohen künstlerischen Niveau auszuleben und damit auch noch sehr viel Geld zu machen. Wenn du mich fragst: ein österreichischer Eric Kroll.“
Also, ehrlich gesagt, kenn ich mich jetzt nicht mehr aus. Wenn ich mich recht erinnere, bin ich zum Doc gekommen, um mich wegen einer Leiche im Keller beraten zu lassen, und nicht, um von der künstlerischen Qualität halbnackter Bergsteigerinnen überzeugt zu werden. Aber der Doc läßt mir keine Zeit zum Denken, sondern legt mir das nächste und übernächste Hochglanzmagazin in den Schoß und damit ein weiteres Dutzend bildhübscher Frauen in Bedrängnis. Es wäre gelogen zu behaupten, daß die Bilderflut völlig spurlos an mir vorübergeht. Man ist schließlich nicht aus Stein. Und die Damen auf den Fotos leiden wirklich überzeugend, an den zu hohen Absätzen ihrer Lackschuhe zum Beispiel, an zu engen Korsagen und klemmenden Reißverschlüssen, oder an den bösen Absichten ebenso attraktiv wie unerbittlich wirkender Ladies, die offensichtlich nicht unter der Qual ihrer Bleistiftabsätze ächzen, auch nicht über die strenge Schnürung ihrer Korsetts wehklagen, sondern, ganz im Gegenteil, mit wonnigen Gefühlen in schwarz glänzenden Gewändern, die an ihren Kurven kleben wie eine Wursthaut, durch diese Welt schreiten.
„Als der Knapp damit anfing, zuerst in Zeitschriften und dann in der Werbung, gingen die Feministinnen noch auf die Barrikaden. Aber heute lieben sie
Weitere Kostenlose Bücher