Kurz bevor dem Morgen graut
Zimmer gekommen ist?“
René sah sie weiter nur furchtsam an.
„Antworte, Junge oder ich ...“
Sie sah sich im Zimmer um nach irgendetwas, mit dem sie ihn verprügeln konnte. Heute Nacht würde er eine Lektion bekommen, die er so schnell nicht wieder vergessen sollte. Vielleicht zeigte er dann in Zukunft etwas mehr Respekt.
Sie entschied sich für einen Gürtel, der sich sauber aufgehängt im Kleiderregal befand.
Renés Augen weiteten sich vor Entsetzen, als seine Mutter nach dem Gürtel griff.
„Bitte nicht, Mami!“, schrie er verzweifelt und zog sich die Bettdecke bis über den Kopf.
Andrea zögerte, sah sich um. Dann ging sie zum Fenster, warf es zu und schmiss den Gürtel in die Ecke.
„Schlaf jetzt!“, sagte sie scharf. „Wir werden morgen früh darüber sprechen, welche Konsequenzen du für dein Verhalten zu erwarten hast.“
Sie schnappte sich den Zimmerschlüssel, der auf dem Regal lag, warf abermals beim Rausgehen die Zimmertür hinter sich zu und sperrte von außen ab. Wenigstens würde er jetzt nicht mehr herumwandern und Lügen über seinen Vater erzählen.
Sie lehnte sich gegen die Zimmertür und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Sie konnte nicht glauben, dass sie ihn schon wieder geschlagen hatte. Was war nur mit ihr los? Fast hätte sie ihn grün und blau geprügelt. Was hätte der Kinderarzt morgen gesagt, wenn er gekommen wäre, um René zu untersuchen? Wahrscheinlich hätte er sie dem Jugendamt gemeldet und ihr auch noch den Rest ihrer kleinen Familie weggenommen.
Sie fühlte ihren Puls. Er wurde wieder langsamer. Sie atmete auf.
Warum erzählte René so etwas? Wollte er Aufmerksamkeit erregen? Wollte er ihr zeigen, dass er auch immer noch unter dem Tod seines Vaters litt? Oder konnte es sein, dass er aufgrund des Fiebers schon halluzinierte? Sie wusste es nicht. Und im Moment war sie einfach nur froh, dass das Problem für diese Nacht gelöst war.
Sie ging zurück in die Küche und goss sich einen Cognac ein. Den brauchte sie jetzt. Dringend. Als sie sich umdrehte, ließ sie vor Schreck diesmal wirklich das Glas fallen. Sie starrte einen Moment auf Jörgs Bild, dann sammelte sie sich wieder. Sie hatte nichts gesehen, gar nichts. Sie hob das Glas auf, das heil geblieben war, und wischte den verschütteten Cognac mit einer Küchenrolle auf.
Jetzt sah sie schon Gespenster. Der Junge hatte sie ganz verrückt gemacht mit seinen Phantasien! Einen Moment lang hatte sie wirklich geglaubt, Jörgs Gesichtsausdruck auf dem Bild habe sich verändert. Er hatte nicht mehr gelächelt. Er hatte besorgt ausgesehen. Sie vergewisserte sich mit einem weiteren Blick auf das Bild noch einmal, dass sie sich geirrt hatte. Jörg lächelte genauso wie immer.
Zeit, dass sie endlich ins Bett kam.
Sie erwachte um drei Uhr nachts, weil es eiskalt im Zimmer war. Verwundert richtete sie sich auf. Ihre Schlafzimmertür stand offen. Hatte sie die Tür offen gelassen? Das konnte sie sich kaum vorstellen. Sie richtete sich auf und schlüpfte in ihre Pantoffeln. Langsam ging sie auf den Flur hinaus. Ihr Atem ging schneller. Renés Zimmertür stand auch offen, der Schlüssel steckte außen. Sie wusste, dass sie den Schlüssel stecken gelassen hatte. Aber wie hatte René von innen öffnen können? Sie näherte sich der Zimmertür und sah hinein. René war nicht in seinem Bett, das Fenster stand abermals offen. Was war hier los?
Hektisch rannte sie hinunter ins Erdgeschoss. Alle Fenster waren geöffnet worden. Küche, Wohnzimmer, Esszimmer. Dann sah sie, dass auch die Haustür sperrangelweit offen stand. Sie hastete nach draußen vor die Tür. Da war er. René stand mit dem Rücken zu ihr in der Auffahrt, barfuß im Schlafanzug und blickte ins Leere.
„Sag mal, bist du irregeworden?“, brüllte Andrea los, dann besah sie sich eines Besseren und senkte ihre Stimme. Es mussten wirklich nicht alle Nachbarn sehen, dass sie ihr eigenes Kind nicht im Griff hatte. „Was machst du denn hier draußen?“, flüsterte sie streng. „Du holst dir den Tod, wenn du mit Fieber halbnackt nach draußen gehst!“
René drehte sich zu ihr um. Sein Blick war glasig.
„Papa kommt mich gleich holen“, flüsterte er heiser.
Ohne nachzudenken packte Andrea ihn am Arm und schleifte ihn wieder ins Haus. Sie schloss die Haustür und alle Fenster wütend, aber leise genug, dass die Nachbarn nichts mitbekamen. Dann schleifte sie René abermals nach oben. Diesmal würde sie nicht so nachgiebig sein. Der Junge verstand es anders
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