Kurz vor Mitternacht
nicht auf Ihrer Linie.»
Aus irgendeinem Grund errötete Ted.
«Ich weiß nicht, was Sie damit meinen.»
Mary, die eine Spannung witterte, beeilte sich, eine Bemerkung über eine Zeitungssensation des Tages zu machen:
«Wisst ihr eigentlich, dass man im Mordfall von Kentish einen Mann verhaftet hat?»
«Das ist nun schon der zweite», fiel Nevile ein. «Hoffentlich ist es diesmal der Mörder.»
«Man wird ihn trotzdem nicht verurteilen können», sagte Treves.
«Ungenügendes Beweismaterial?»
«Ja.»
«Ich glaube, dass sich zum Schluss doch immer ausreichend Beweise finden», äußerte sich Kay.
«Nicht immer, Mrs Strange. Sie würden erstaunt sein, wenn Sie wüssten, wie viele Menschen, die ein Verbrechen verübt haben, frei herumlaufen.»
«Weil sie nicht überführt werden konnten, meinen Sie?»
«Nicht nur das. Es gab vor zwei Jahren einen berühmten Fall, wo die Polizei genau wusste, wer mehrere Kinder ermordet hatte. Und trotzdem war sie machtlos. Zwei Leute gaben dem Mann ein Alibi. Das Alibi war falsch, aber man konnte es nicht beweisen. Folglich kam der Mörder ungestraft davon.»
«Wie schrecklich!», murmelte Mary.
Thomas klopfte seine Pfeife aus und sagte in ruhigem, nachdenklichem Ton: «Das bestärkt mich in meiner Ansicht – dass es sich mitunter rechtfertigen lässt, wenn man das Urteil selber vollstreckt.»
«Wie meinen Sie das, Mr Royde?»
Thomas begann seine Pfeife frisch zu stopfen.
«Angenommen, Sie wissen von einer schmutzigen Tat… wissen, dass der Mann, der sie begangen hat, nach den bestehenden Gesetzen nicht zu bestrafen ist… dass er frei ausgehen wird. Dann ist man meiner Meinung nach berechtigt, das Urteil selber zu vollstrecken.»
Treves sagte erregt: «Ein sehr gefährlicher Standpunkt, Mr Royde! Ein solches Vorgehen wäre ganz und gar ungesetzlich!»
«Das sehe ich nicht so. Es handelt sich ja darum, dass die Tatsachen klar sind – das Gesetz ist nur machtlos!»
«Trotzdem wäre ein privates Eingreifen unentschuldbar.»
Thomas lächelte – ein sehr mildes Lächeln.
«Ich bin nicht überzeugt», erklärte er. «Wenn einem Mann der Hals umgedreht werden sollte, so würde ich die Verantwortung schon übernehmen, das zu besorgen!»
«Und damit würden Sie sich selber strafbar machen!»
Noch immer lächelnd gab Thomas zurück: «Ich müsste natürlich sehr vorsichtig vorgehen…»
Audrey fiel mit ihrer hellen Stimme ein: «Du würdest erwischt werden, Thomas.»
«Das bezweifle ich», entgegnete Thomas.
«Ich kenne einen Fall…», begann Treves, doch dann brach er ab. Entschuldigend setzte er hinzu: «Kriminologie ist mein Steckenpferd, müssen Sie wissen.»
«Oh, bitte erzählen Sie», flehte Kay.
«Ich habe eine ziemliche Erfahrung mit Kriminalfällen», sagte Treves, «aber nur einige sind wirklich interessant. Die meisten Mörder gehen sehr kurzsichtig vor und sind deshalb uninteressant. Immerhin könnte ich Ihnen ein fesselndes Beispiel nennen.»
«Oh, bitte…»
Treves sprach langsam; offenbar wählte er seine Worte mit Bedacht.
«Der Fall betrifft ein Kind. Ich erwähne weder das Alter noch das Geschlecht des Kindes. Es handelt sich dabei um folgende Tatsachen: Zwei Kinder spielen mit Pfeil und Bogen. Das eine Kind traf das andere mit seinem Pfeil und verletzte es tödlich. Es fand eine Untersuchung statt; das überlebende Kind war ganz verstört, der Unglücksfall wurde bedauert, und man hatte Mitleid mit dem unglücklichen Täter.»
Er machte eine Pause.
«Ist das alles?», fragte Ted Latimer.
«Das ist alles. Ein bedauernswerter Unglücksfall. Aber die Geschichte hat noch eine andere Seite. Zufällig war kurze Zeit vorher ein Bauer durch den nahe gelegenen Wald gegangen. Dort hatte er das Kind auf einer Lichtung gesehen, wie es mit Pfeil und Bogen übte.»
Treves machte abermals eine Pause, um die Bedeutung seiner Worte wirken zu lassen.
«Sie meinen», begann Mary ungläubig, «es war gar kein Unglücksfall, sondern Absicht?»
«Ich weiß es nicht», erwiderte Treves. «Ich habe es nie erfahren. Aber bei der Untersuchung wurde festgestellt, dass die Kinder noch nie mit Pfeil und Bogen gespielt hatten und infolgedessen ahnungslos drauflos schossen.»
«Das stimmte also nicht?»
«Das traf bei dem einen Kind auf jeden Fall nicht zu!»
«Was tat denn der Bauer?», erkundigte sich Audrey atemlos.
«Er tat gar nichts. Ob das richtig war oder nicht, vermag ich nicht zu entscheiden. Die Zukunft des Kindes stand auf dem Spiel. Er fand wohl,
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