Kurz vor Mitternacht
blicken auf Leute wie mich mit Verachtung herab.»
«Das stimmt nicht ganz», entgegnete sie. «Wir sind vielleicht etwas einfältig, und es fehlt uns an Fantasie, aber wir sind nicht bösartig. Ich selber wirke wohl ziemlich konventionell, und deshalb halten Sie mich wahrscheinlich für überheblich, aber auch ich bin durchaus nur ein Mensch. So tut es mir zum Beispiel sehr leid, dass Sie unglücklich sind, und ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen.»
«Oh, wenn das wahr ist… na, das ist sehr nett von Ihnen.»
Es entstand eine Pause.
Dann fragte Mary sanft: «Waren Sie schon immer in Kay verliebt?»
«O ja.»
«Und sie?»
«Ich dachte, sie auch… bis Strange auftauchte.»
«Und Sie lieben sie noch immer?» Auch das kam ganz sanft.
«Ich denke, das merkt man.»
Nach ein paar Augenblicken meinte Mary ruhig: «Sollten Sie nicht besser abreisen?»
«Warum denn?»
«Weil Sie sich sonst nur noch unglücklicher machen.»
«Sie sind ein nettes Geschöpf. Aber Sie wissen nicht viel von den Menschenwesen, die außerhalb Ihres engen Horizonts leben. In der nächsten Zukunft kann viel geschehen.»
«Was zum Beispiel?», fragte Mary scharf.
«Warten Sie ab, dann werden Sie’s sehen.»
Nachdem Audrey sich angezogen hatte, schlenderte sie am Strand entlang und dann über eine felsige Landspitze, wo sie auf Thomas Royde stieß, der gerade gegenüber dem «Möwennest» am Ufer saß und seine Pfeife rauchte.
Thomas wandte den Kopf, als Audrey sich näherte, aber er rührte sich nicht. Wortlos ließ sie sich neben ihm nieder. Zwischen ihnen herrschte jenes Schweigen, das Menschen wahren können, die sich sehr gut kennen.
«Wie nah das Haus aussieht», unterbrach Audrey schließlich die Stille.
Thomas blickte zum «Möwennest» hinüber.
«Ja, wir könnten heimschwimmen.»
«Nicht jetzt beim Gezeitenwechsel. Tante Camilla hatte mal ein Mädchen, das eine leidenschaftliche Schwimmerin war und immer den Fluss überquerte. Man darf nur bei Ebbe oder bei Flut hinüberschwimmen, aber nie, wenn die Gezeiten wechseln, weil das Wasser einen dann einfach mitreißt. Das hat das Mädchen einmal getan, aber zum Glück konnte es sich noch retten – allerdings war es vollkommen erschöpft, als es schließlich bei Easter Point an Land kam.»
«Hier sieht das Wasser aber gar nicht so gefährlich aus.»
«Auf dieser Seite ist es auch nicht so schlimm. Die Strömung ist drüben, denn bei den Klippen dort geht es tief hinab. Voriges Jahr hat dort ein Mann Selbstmord verüben wollen. Er sprang von der Klippe, die Stark Head heißt, aber er verfing sich auf halbem Weg in einem Baum, und die Küstenwächter retteten ihn.»
«Der arme Kerl», murmelte Thomas. «Sicher wusste er seinen Rettern keinen Dank. Muss unangenehm sein, wenn man sich entschlossen hat, allem ein Ende zu machen, und dann gerettet wird. Da kommt man sich dann wohl sehr einfältig vor.»
«Vielleicht ist er jetzt froh darüber», sagte Audrey träumerisch. Sie fragte sich, wer der Mann sein mochte und was er augenblicklich wohl trieb.
Thomas betrachtete Audrey von der Seite, während er heftig an seiner Pfeife zog. Er bemerkte den geistesabwesenden Ausdruck ihres Gesichts, sah die langen braunen Wimpern, das kleine, muschelförmige Ohr. Das erinnerte ihn an etwas. «Ach, übrigens habe ich deinen Ohrring, den du gestern Abend verloren hast.»
Er kramte in der Hosentasche.
Audrey streckte die Hand aus.
«Oh, das ist fein. Wo hast du ihn gefunden? Auf der Terrasse?»
«Nein. Bei der Treppe. Du musst ihn verloren haben, als du zum Essen hinunterkamst. Es fiel mir auf, dass du ihn bei Tisch nicht trugst.»
Sie nahm das Schmuckstück entgegen.
«Ich bin froh, dass ich ihn wiederhabe.»
Thomas fand, dass der Ohrring eigentlich zu groß war für ihr kleines Ohr. Auch das Paar, das sie heute trug, war ziemlich auffällig.
«Du hast sogar beim Baden Ohrringe an?», bemerkte er. «Fürchtest du nicht, sie zu verlieren?»
«Oh, das sind ganz billige Dinger. Ich bin nicht gern ohne Ohrringe – wegen der Narbe hier.»
Sie berührte ihr linkes Ohr.
Thomas erinnerte sich.
«Da hat dich Bouncer gebissen, nicht wahr?»
Audrey nickte.
Beide dachten an das Ereignis zurück. Audrey Standish, ein langbeiniges, mageres Kind, beugte ihr Gesichtchen zu Bouncer hinab, der gerade sehr schlechte Laune hatte. Der Hund biss zu, und die Wunde hatte damals genäht werden müssen.
«Aber die Narbe fällt kaum auf», meinte Thomas. «Warum kümmerst du dich überhaupt
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