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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Majevska) unseren Vater, der ein gebrechlicher alter Mann ist, nicht im romantischen Sinn des Wortes liebt, würde sie sich
     doch in den letzten Jahren seines Lebens um ihn kümmern und freundlich zu ihm sein. Aber schon nach wenigen Monaten war klar,
     dass das Gegenteil der Fall ist.
     
    Während ich dies schreibe, plagen mich schreckliche Gewissensbisse, aber insgeheim bin ich auch erleichtert. Der Judaskuss
     im Garten, die heimliche Freude darüber, dass über diese Arglist keine Rechenschaft abgelegt werden muss   … Vater darf nie etwas davon erfahren. Mike und Anna brauchen es auch nicht zu wissen. Valentina wird zwar einen Verdacht
     hegen, aber mit Sicherheit wissen wird sie es niemals.
    Am Ende des Briefes bitte ich den Korrespondenten im |122| Innenministerium, unsere Anonymität zu wahren. Dann setze ich meine Unterschrift darunter und schicke den Brief zu meiner
     Schwester. Vera unterschreibt auch und schickt ihn ans Innenministerium weiter. Wir erhalten keine Antwort. Als Vera sich
     einige Wochen später telefonisch erkundigt, heißt es, der Brief sei zu den Akten genommen worden.
     
    Vater weicht aus, als ich mich das nächste Mal bei ihm melde und wissen will, wie die Dinge stehen.
    »Alles in Ordnung«, sagt er nur. »Nichts Außergewöhnliches.«
    »Kein Streit mehr?«
    »Nichts, was nicht normal wäre. Mann   – Frau. Ist normal, dass es Streit gibt. Nichts Schlimmes.« Dann fängt er an, sich über Luftfahrt auszulassen. »Weißt du,
     in der Liebe ist es wie in der Luftfahrt, alles nur eine Frage der Balance. Größerer Auftrieb bei dünnen langen Tragflächen,
     aber auf Kosten von mehr Gewicht. Und genauso gehen eben Auseinandersetzungen und gelegentlich schlechte Laune auf Kosten
     der Liebe. Beim Design von Flugzeugflügeln liegt das Erfolgsgeheimnis darin, das richtige Verhältnis von Auftrieb und Luftwiderstand
     herauszufinden. Ist auch so mit Valentina.«
    »Papa«, sage ich, »lass mal die Luftfahrt beiseite. Merkst du denn nicht, dass ich mir Sorgen um dich mache?«
    »Mit mir ist alles in Ordnung. Nur mit meiner Arthritis fängt es wieder an. Diese Feuchtigkeit   …«
    »Möchtest du, dass Mike und ich dich besuchen kommen?«
    »Nein, jetzt nicht. Später vielleicht.«
     
    Meine Schwester wird noch kürzer abgefertigt.
    »Er geht überhaupt nicht auf meine Fragen ein. Er quasselt nur über dies und das, unaufhörlich. Ich glaube, er ist |123| allmählich vollkommen wirr im Kopf«, sagt sie. »Wir sollten ihn für unzurechnungsfähig erklären lassen. Dann könnten wir sagen,
     er war nicht bei Sinnen, als er sich auf diese Heirat einließ.«
    »Er war doch schon immer so. Das ist jetzt nicht schlimmer als früher. Du weißt selbst, dass er schon immer ein wenig verrückt
     war.«
    »Das stimmt natürlich – total verrückt. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es jetzt schlimmer ist als sonst. Spricht
     er eigentlich mit dir über Valentina?«
    »Nein, nicht wirklich. Er behauptet, es sei ganz normal, wenn es Auseinandersetzungen zwischen ihnen gäbe. Du weißt ja selbst,
     wie er mit Mutter immer gestritten hat. Entweder hat es sich jetzt eingependelt und sie kommen miteinander klar, oder er will
     nicht, dass wir wissen, wie schlimm es tatsächlich ist. Er hat Angst, dass du ihn auslachst, Vera.«
    »Mit Recht. Natürlich würde ich ihn auslachen. Was erwartet er denn? Aber trotzdem – immerhin ist er unser Vater, und wir
     können nicht zulassen, dass diese schreckliche Frau ihn so behandelt.«
    »Er sagt zwar, alles sei in Ordnung, aber er klingt nicht so.«
    »Vielleicht hört sie ja zu, wenn er telefoniert. Fällt mir gerade so ein – könnte doch sein, oder?«
     
    Wir nehmen Weihnachten als Vorwand, um zu ihm zu fahren.
    »Weihnachten, Papa. Alle Familien kommen doch Weihnachten zusammen.«
    »Ich frage Valentina, was sie davon hält.«
    »Nein, sag ihr einfach, dass wir kommen.«
    »Na gut. Aber keine Geschenke. Keine Geschenke für mich, und ich kaufe keine für euch.«
    |124| Dieses »Keine Geschenke machen« hat er von Baba Nadia. Ich heiße nach ihr. Baba Nadia war eine strenge, fromme Frau mit glattem
     schwarzem Haar, das erst grau wurde, als sie siebzig war (nach Meinung meiner Mutter ein sicheres Zeichen für ihre mongolische
     Herkunft). Sie war Dorfschullehrerin und eine große Verehrerin von Tolstoi und dessen verdrehten Vorstellungen vom geistigen
     Adel der ländlichen Bevölkerung und der Schönheit der Selbstverleugnung. Die russische

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