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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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entscheiden uns für einen Tisch am Fenster, auch wenn es draußen außer frostbedeckten Autodächern
     und dem Schimmer einer Straßenlaterne nichts zu sehen gibt. Das Restaurant hat braune Velourstapeten und Pergament-Lampenschirme
     mit indischen Motiven. Im Hintergrund dudeln verjazzte Weihnachtsliedversionen auf einem regionalen Radiosender.
    Der Besitzer begrüßt meinen Vater wie einen lange verloren geglaubten Freund. Vater stellt mich, Mike und Anna vor. »Meine
     Tochter, ihr Mann, meine Enkelin.«
    »Und wer ist das?« Der Besitzer zeigt auf Valentina und Stanislav.
    |127| »Die Dame und ihr Sohn kommen aus der Ukraine«, sagt Papa.
    »Und wer ist sie? Ihre Frau?« Ganz offensichtlich hat es sich herumgesprochen und nun will er den Skandal bestätigt bekommen
     und seinen Anteil am Tratsch.
    »Sie sind aus der Ukraine«, sage ich. Ich bringe es einfach nicht fertig zu sagen, ja, sie ist seine Frau. »Bekommen wir bitte
     die Speisekarte?«
    Sichtlich enttäuscht holt er die Speisekarten und knallt sie vor uns auf den Tisch.
    »Können wir eine Flasche Wein haben?«, fragt Mike, doch das Restaurant hat keine Lizenz für alkoholische Getränke. Wir müssen
     also aus eigener Kraft fröhlich werden.
    Wir geben unsere Bestellungen auf. Mein Vater möchte Poonah-Lamm. Meine Tochter ist Vegetarierin. Mein Mann mag alles, was
     scharf ist. Ich liebe überbackene Gerichte. Valentina und Stanislav haben noch nie indisch gegessen. Sie sind argwöhnisch
     und geben sich keine Mühe, es zu verbergen.
    »Ich möchte nur Fleisch. Viel Fleisch«, sagt Valentina. Sie bestellt aus dem englischen Teil der Speisekarte ein Steak. Stanislav
     ordert Grillhähnchen. Wir warten. Wir lauschen der Popmusik und dem Geplauder des DJ.   Wir betrachten den wie Puderzucker schimmernden Frost auf den Autodächern. Der Besitzer steht hinter der Bar und beobachtet
     uns diskret. Ob er auf etwas Bestimmtes wartet?
    Anna kuschelt sich an Mike und beginnt, seine Serviette zu einer komplizierten Origami-Blüte zusammenzufalten. Sie ist Papas
     Mädchen, genau wie ich früher. Irgendwie macht es mich traurig und froh zugleich, wenn ich die beiden so miteinander sehe.
    »Haben wir also wieder mal Weihnachten«, sagt Mike. »Ist doch nett, zusammen essen zu gehen. Sollten wir viel öfter machen.«
    |128| »Ja, wirklich«, sage ich. Mike weiß nichts von dem Brief ans Innenministerium.
    »Hast du gute Geschenke bekommen, Stanislav?«, fragt Anna. Man kann ihr anhören, wie schön sie Weihnachten findet. Auch sie
     weiß nichts von dem Brief.
    Stanislav hat Socken, Seife, ein Buch über Flugzeuge und ein paar Kassetten bekommen. Letztes Jahr gab es eine schwarze Jacke
     mit Pelzkragen. Echten Pelz. Im Jahr zuvor hatte ihm sein Vater Schlittschuhe geschenkt.
    »Weihnachten in Ukraina besser«, sagt Valentina.
    »Warum seid ihr dann nicht –?« Es ist mir einfach herausgerutscht. Obwohl ich mir sofort auf die Zunge beiße, weiß Valentina,
     was ich fragen wollte.
    »Warum? Für Stanislav. Ist alles für Stanislav. Stanislav muss haben gute Chancen. Gibt nicht Chancen in Ukraina.« Und mit
     einer Wendung zu mir fügt sie betont laut hinzu: »Gibt nur Chance für Gangster-Prostituierte in Ukraina.«
    Mike nickt mitfühlend. Anna verstummt. Stanislav lächelt sein nettes Zahnlückenlächeln. Hinter der Bar steht der Besitzer
     und wagt nicht, sich zu rühren. Mein Vater sieht aus, als sei er irgendwo in weiter Ferne auf einem Traktor unterwegs.
    »War es im Kommunismus denn besser?«, frage ich.
    »Natürlich war besser. War gutes Leben. Du verstehen nicht, was für Typ Leute jetzt Land regieren.«
    Ihre sirupfarbenen Augen sehen müde aus, ihr Blick ist schwer. Sie hat heute ihren ersten freien Tag seit zwei Wochen. Der
     schwarze Eyeliner ist unter den Augen verschmiert. Wenn ich nicht aufpasse, bekomme ich gleich noch Mitleid mit ihr. Nutte.
     Schlampe. Fertiggerichte-Köchin. Ich denke an meine Mutter und verhärte mein Herz.
    »Meine Schule war besser«, sagt Stanislav. »War mehr Disziplin. Mehr Hausaufgaben. Aber jetzt muss man in |129| Ukraina an die Lehrer Geld bezahlen, wenn man Prüfungen machen will.«
    »Also kein Unterschied zu deiner neuen Schule hier«, sage ich trocken. Mike gibt mir unter dem Tisch einen Tritt.
    »Und auch kein Unterschied zu meiner Schule«, zirpt Anna. »Wir müssen unsere Lehrer immer mit Äpfeln bestechen.«
    Stanislav schaut sie erstaunt an: »Mit Äpfeln?«
    »War nur ein Witz«, sagt Anna. »Bringen denn

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