Kurzschluss
Wenn er sie umgebracht hätte, würde er uns nicht dort hinführen wollen.«
»Aber«, wandte ein anderer ein, »wenn sie noch lebt, kann sie ihren Entführer identifizieren.«
»Ihr Auto ist nirgendwo aufgetaucht?«, fragte ein Beamter dazwischen.
Häberle schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, nein.«
»Wo kam eigentlich die Frau Rothfuß her, bevor sie hier den Aushilfsjob angenommen hat?«, wollte die junge Kollegin wissen und ging wieder an ihren Platz zurück.
»Sie kommt aus dem Norden«, erklärte Linkohr, als habe er sich ganz besonders dafür interessiert. »Aus der Gegend von Wolfsburg.«
Häberle entschied: »Höchste Priorität hat dieses Blatt hier. Wir schalten das LKA ein, die Schriftexperten – und alles, was dazu gehört. Und dann müssen wir wissen, woher der Draht stammt, der über diese Leitung gezogen wurde und was das für eine Kunststoffschnur war.«
»Eine Angelschnur war das«, wusste bereits jemand zu berichten. »Eine Angelschnur mit Senkblei als Wurfgeschoss.«
»Hm«, machte Häberle, »eine Angelschnur.« Er kratzte sich an einer Augenbraue, um dann die eher beiläufige Bemerkung fallenzulassen: »Wie stehen eigentlich Naturschützer zum Angeln?«
Niemand wusste eine Antwort darauf.
39
Bodling war an diesem Donnerstagmorgen nach einer ausgiebigen Dusche ins Büro gefahren, während Frau und Kinder daheim von einer Beamtin und einem Beamten betreut wurden, wie es offiziell hieß. In Wirklichkeit hatte Häberle die beiden mit dem persönlichen Schutz in die Wohnung abgeordnet und den Auftrag erteilt, etwaige anonyme Anrufe festzuhalten und sofort zurückverfolgen zu lassen. Unterdessen waren die Kollegen der Spurensicherung in der Garage zugange, um Hinweise auf den Täter zu finden. Eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei durchkämmte das Wiesengelände am Rande des Neubaugebiets, mehrere junge Beamte gingen von Haus zu Haus, um sich zu erkundigen, ob jemand in der vergangenen Nacht verdächtige Beobachtungen gemacht hatte.
Bodling mühte sich im Vorzimmer mit der modernen Kaffeemaschine ab, konnte sich aber beim Anblick der leeren Schreibtischstühle, die den Sekretärinnen gehörten, nicht auf die Gebrauchsanweisung konzentrieren. Schließlich gelang es ihm dennoch, dem Gerät eine Tasse heißen Kaffees zu entlocken. Er nahm sie ohne Untersetzer mit in sein Büro und ließ die Zwischentür offenstehen, als hoffe er, Frau Rothfuß würde jeden Moment kommen. Eigentlich war es sinnlos gewesen, nach dieser Nacht überhaupt zur Arbeit zu gehen. Aber er brauchte Ablenkung – und außerdem konnte er es nicht ertragen, daheim auf irgendwelche Anrufe zu warten. Er nahm einen Schluck Kaffee, lehnte sich zurück und besah sich mit Grausen die Akten, die vor ihm auf der Schreibtischplatte lagen. Es waren die Fakten und Daten, die er in drei Wochen bei der jährlichen Genossenschaftsversammlung vortragen musste. Aber was bedeuteten schon Bilanzen und Zahlen, wenn es um Leben und Tod ging? 2551,8 – immer wieder schoss ihm diese Zahl durch den Kopf. Was hatte der Attentäter von der vergangenen Nacht damit sagen wollen? War das ein Psychopath, der hier sein Unwesen trieb? Einer, der sich daran ergötzte, wenn er Angst und Schrecken verbreiten konnte? Oder wollte er zeigen, welches Gewaltpotenzial in ihm steckte? Dass er bereit war, buchstäblich über Leichen zu gehen? Und warum gerade die Rothfuß? Schlagartig kam ihm ein Gedanke. Er sprang auf, durchquerte das Vorzimmer und eilte in das Büro seines kaufmännischen Leiters. Feucht saß gerade in ein Aktenstudium vertieft hinter seinem Schreibtisch und war offensichtlich erschrocken. Dass der Chef einfach so hereinstürmte, hatte es nie zuvor gegeben. »Entschuldigen Sie, Herr Feucht«, kam Bodling zur Sache. »Besorgen Sie mir bitte die Personalakte von Frau Rothfuß. Aber möglichst dezent. Machen Sie kein Aufsehen, bitte.«
*
Linkohr war in den Nebenraum gegangen, in dem zwei Kollegen das in Büttners Wohnung entdeckte Filmmaterial sichteten. Es handelte sich, wie die beiden Beamten erklärten, um zwei Themenbereiche: Zum einen hatte Büttner offenbar Freude daran gehabt, halb nackte oder nackte Schönheiten in freier Natur zu filmen. Und zum anderen befasste er sich mit einer Dokumentation über die Strombranche. Alles, was sie auf Festplatten vorliegen hatten, war jedoch nur Rohmaterial. Einen richtigen Zusammenschnitt gab es nicht.
»Da hätt der Kerl noch eine Menge Arbeit gehabt«, stellte ein Kollege fest
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