Kurzschluss
gleich losbrechen würde, sobald die Flasche entkorkt war und sich der warme und geschüttelte Sekt wie ein Geysir in die Turmstube ergoss.
In diesem Augenblick glaubte Wollek zwischen den hohen Bäumen hinterm Turm etwas zu erkennen, was dort nicht hingehörte. Normalerweise fuhren am Sonntagmittag auf dem dortigen Forstweg keine Fahrzeuge. Und wenn, dann kamen sie zum Turm. Doch die, die er zu sehen glaubte, hatten im Schutze der Bäume gestoppt.
Leichtle ließ den Sektkorken im hohen Bogen aus dem Fenster krachen, sodass es sich anhörte, als sei ein Schuss gefallen. Nahezu gleichzeitig sprudelte und spritzte der Sekt, der sich auch nicht bändigen ließ, als Leichtle seine flache Hand gegen die Öffnung presste. Wollek fühlte sich für einen Moment an die Siegerehrung bei der Formel 1 erinnert, wo Sekt meist in Strömen fließt.
Noch während Leichtle mit der Flasche kämpfte, hatte Wollek mit ein paar Schritten und dem knappen Hinweis »Ich bin gleich wieder da« die Turmstube verlassen, um über die Holztreppe abwärts zu hetzen. Ein Glück, dass ihm keine Besucher entgegenkamen, dachte er.
49
Georg Sander und seine Partnerin hatten beschlossen, nicht mit dem Linienbus zum Wanderparkplatz unterhalb des Preikestolens zu fahren, sondern den beschwerlichen Weg vom Campingplatz aus zu nehmen und vermutlich 500 Höhenmeter zu überwinden. Der Weg führte an einem Golfplatz vorbei – und geradewegs in eine wilde, ziemlich verwachsene Schlucht hinein, wo jeder Schritt im feucht-weichen Untergrund ein mooriges Schmatzen auslöste. Sander hatte die Videokassette in eine der vielen Taschen seiner Wanderjacke gesteckt.
Je weiter sie in diese Wildnis vordrangen, desto unheimlicher kam sie ihm vor. Spinnweben deuteten darauf hin, dass hier heute noch niemand gegangen war. Schon hatten sie Zweifel, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, da tauchte ein rustikales Schild auf, das links zu einem steil den Hang aufwärts führenden Pfad wies.
Hier würde ihnen keiner folgen, dachte Sander, der inzwischen einen unerbittlichen Kampf mit seiner inneren Stimme führte. Wer sollte ihm denn nachspüren? Wenn da tatsächlich jemand war, der ihm die Kassette abnehmen wollte, hätte dieser schon tausend Gelegenheiten gehabt. In einem Tunnel, nachts auf einem Campingplatz, wo er Gas hätte ins Wohnmobil blasen können – oder irgendwo auf einsamen Picknickplätzen. Warum also sollte ihm jemand ins Gelände folgen, wenn nicht mal klar war, wo er die Kassette aufbewahrte?
Dein Verhalten wird überwacht, hämmerte die Stimme wieder. Man will wissen, wohin du gehst und ob du in Norwegen weitere Kontaktadressen aufsuchst. Kein Mensch glaubt, dass du Urlaub hast und nur ein einziges Mal journalistisch tätig geworden bist. Nein, kämpfte Sander mit seinem Innersten. Nein. Ich sehe Gespenster, ich bin überarbeitet, überdreht, im Urlaubsstress, verwirrt vom vielen Fahren. Ich möchte mich einfach hinlegen, auf einen Liegestuhl, die Seele baumeln lassen und ausspannen. Dann würde die Welt wieder anders aussehen. Anders und harmloser.
Sie erklommen schweigend den bewaldeten Hang, an dem die Luft feuchtwarm stand, als seien sie irgendwo in mediterranen Gefilden.
Unversehens drehte sich der Blondschopf vor ihm um. Doris war stehen geblieben. »Hast du das eigentlich bemerkt?«, fragte sie ihn, während er näherkam. »Man trifft immer wieder dieselben Leute hier. Auch das Wohnmobil vom Gletscher stand heut auf dem Campingplatz.«
»Wie?« Sander war erschrocken. »Welches Wohnmobil?«
»Das mit HZ. Hast du das denn nicht gesehen?«
Sander spürte, wie sein Blutdruck stieg.
*
Häberle hatte bereits von unterwegs mit dem neuen Leiter der Polizeidirektion das weitere Vorgehen besprochen. Der Chefermittler war abgekämpft und verschwitzt, als er den Dienstwagen im Hof des Geislinger Polizeireviers abstellte. Seine viertägige Reise hatte in seinem unrasierten Gesicht deutliche Spuren hinterlassen.
Obwohl er sich in der Schwüle dieses Sonntags, es war der 21. Juni, gerne unter eine kühlende Dusche gestellt hätte, war er fest entschlossen, mit Linkohr und einem halben Dutzend uniformierter Kollegen den Fall zu Ende zu bringen.
Alle Indizien deuteten darauf hin, dass nur ein Mann für alles verantwortlich war – eben jener, den er jetzt im Ödenturm vermutete. Dieser war dort aufgewachsen, wo auch Mariotti und diese Vogelsang-Klarsfeld herkamen. Während der langen Autofahrt hatte Häberles Mosaikbild deutliche Konturen
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