Kuss der Ewigkeit
Türen waren geschlossen, und sie zu öffnen, würde uns sichtbar machen. Zum Glück hingen die Fieberkurven außen an den Türen.
Ich ignorierte die Räume mit dicken Kurvenmappen; die Patientin, nach der wir suchten, war noch nicht lange hier, ihre Kurve würde verhältnismäßig dünn sein. Natürlich könnte ich damit weit danebenliegen, je nachdem, wie viele Operationen sie gebraucht hatte. Ich sah Lornas Namen auf einem der Kurvenblätter. Gut zu wissen, dass sie noch lebte, auch wenn ihr Zustand immer noch bedrohlich war.
Nathanial erstarrte ein paar Türen von Lornas Zimmer entfernt. Ich musste mir den Hals verrenken, um das Kurvenblatt lesen zu können, auf das er blickte. Candice Mathews stand in kleinen Buchstaben darauf geschrieben. Es konnte Hunderte von Frauen mit Namen Candice in Haven geben, und bei dieser speziellen hier könnte es sich um eine alte Dame mit Herzversagen handeln, aber ein dumpfes Gefühl in der Magengrube sagte mir, dass das nicht der Fall war. Nathanial sah sich um, dann rückte er mich auf seinen Armen ein wenig zurecht und stieß die Tür auf.
Sobald sie sich hinter uns wieder geschlossen hatte, stellte er mich auf dem Boden ab. Die Patientin war hinter einem Vorhang verborgen, doch das Piepsen der Monitore und das Zischen der Beatmungsmaschine erfüllten den Raum. Nathanial trat um den Vorhang herum, anstatt ihn zurückzuziehen, und ich folgte ihm. Auf der anderen Seite war ein rundes, zerschundenes Gesicht mit einer kleinen Stupsnase und blonden Locken auf einem unbequem aussehenden Kissen zu sehen. Die Patientin schlief unruhig.
Candice war nett zu mir gewesen, hatte versucht, sich mit mir anzufreunden, obwohl sie hinter Nathanial her gewesen war. Mit angewidertem Entsetzen starrte ich auf all die kleinen Schläuche, die in sie hineinführten. Sie sah so klein und hilflos aus, überhaupt nicht wie das quirlige Mädchen, das wir gestern Nacht in der Bar zurückgelassen hatten. Dieser Gedanke machte mich stutzig. Wir hatten sie gestern Nacht in der Bar zurückgelassen, allein und angetrunken, aber in einer Bar und nicht auf einem Rave. Der Einzelgänger hatte Frauen bei Raves aufgelesen. Warum hatte sich sein Muster geändert?
Weil er bereits wusste, was wir erst gestern Abend erfahren hatten, von Candice’ DJ . Nämlich dass es weder zurzeit noch in der nahen Zukunft Raves in der Umgebung gab.
Eine Bar oder ein Klub waren eine gute Alternative, um Menschen mit eingeschränktem Urteilsvermögen zu finden. Er musste Candice aufgelesen haben, nachdem wir gegangen waren. Schuldgefühl formte sich zu einem Kloß in meinen Eingeweiden. Wenn wir sie nicht gebeten hätten, uns mit ihrem Freund bekannt zu machen, dann wäre sie überhaupt nicht in dieser Bar gewesen.
Ich trat an die Seite des Bettes. Die roten Strähnen, die sie in ihre Ponyfransen gefärbt hatte, hingen ihr über die zugeschwollenen Augen, ein merkwürdiger Kontrast zu den Blutergüssen in ihrem Gesicht. Warum diese Bar? Warum hatte sich der Einzelgänger sie ausgesucht? Ich streckte die Hand aus, um ihr die Ponysträhnen aus dem Gesicht zu streichen, damit sie ihr nicht die Augen verdeckten, wenn sie sie öffnete, doch Nathanial schlang den Arm um mich und zog mich zurück.
» Wa…?«
Er legte mir zwei Finger über die Lippen, als sich die Tür des Zimmers öffnete. Ich wurde so reglos, dass ich aufhörte zu atmen. Scheiße. Wir saßen zwischen dem Bett und dem Vorhang in der Falle. Nathanial zog mich dichter an die Wand, als eine junge Schwester in lachsfarbener Krankenhauskleidung um den Vorhang herumkam. Sie kreischte nicht auf, also waren wir offensichtlich wieder unsichtbar. Leise summend überprüfte sie Candice’ Vitalfunktionen und trug die Ergebnisse in die Fieberkurve ein.
» Gib nicht auf zu kämpfen«, flüsterte sie ihrer ausgestreckten Gestalt zu.
Wie schlimm stand es um sie? Wie wahrscheinlich war es, dass sie es nicht schaffte? Das Bedürfnis, sie zu fragen, brannte in meiner Kehle, und ich biss mir auf die Lippen.
Ich sah zu Nathanial hoch. Er beobachtete nicht die Krankenschwester, sondern starrte Candice an, auf dem Gesicht nicht einmal den Funken einer erkennbaren Gefühlsregung. Ich hatte Kummer oder Wut erwartet, doch er starrte Candice nur an, und da war nichts. Sein Gesicht war ausdruckslos, die Augen kalt und leer. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, drehte er sich zu mir um und musterte mein Gesicht ebenso eindringlich, wie ich ihn später ausquetschen würde. Anspannung
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