Kuss der Ewigkeit
schüttelte den Kopf. » Es würde dich nur lebendig erhalten, dir aber keine Kraft geben.«
Lebendig klang gut genug. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. » Was wäre schlimmer, Rehblut oder kein Blut?«
Gil räusperte sich. Sie war einige Schritte von uns entfernt stehen geblieben, was sie vermutlich für einen ausreichenden Sicherheitsabstand hielt, doch nun trat sie näher und zog eine ihrer Schriftrollen hervor. » Das vierte Opfer des Einzelgängers, das zweite in Haven getötete Opfer, wurde im Sydney Park gefunden. Wenn wir dorthin gehen, können wir einen unserer Fundorte überprüfen, während Kita sich eine Zwischenmahlzeit fängt.«
Nathanial seufzte erneut. » Es gibt im Park keine Rehe, aber wir könnten Kaninchen finden, das stimmt.«
Ich lächelte. Ich war eine ausgezeichnete Kaninchenjägerin.
Schweigend gesellten wir uns wieder zur Menschheit auf den Straßen. Die Bürgersteige waren nicht überfüllt, doch sie waren auch nicht unbevölkert. Zuerst beobachtete ich die Leute, an denen wir vorbeikamen, doch der Druck in meinem Mund steigerte sich so, dass es an Schmerz grenzte, und wurde jedes Mal schlimmer, wenn ich jemanden ansah. Stumm wiederholte ich im Geiste immer wieder ein Mantra, so etwas wie » Menschen sind kein Futter«, doch an einem gewissen Punkt musste mein Skandieren wohl weniger stumm geworden sein, denn Bobby, Nathanial und Gil blieben allesamt stehen und starrten mich an.
Ich schob meine Hände tief in die Manteltaschen und wandte den Blick ab. Aus Notwendigkeit hielt ich mich dicht bei Nathanial– er zumindest fiel nicht unter die Kategorie Futter. Mit Bobbys Nähe fühlte ich mich nun, da wir uns nicht berührten, einigermaßen wohl, doch beim Anblick von Menschen drängten sich mir Raubtierinstinkte in den Vordergrund. Mir fielen lebenswichtige Angriffsstellen auf. Sogar über das Flap-flap von Gils Gummistiefeln hinweg, das mir in den Ohren hallte, konnte ich die Menschen um uns herum hören. Was, wenn ein Mensch den ausgehungerten Vampir mit langen Reißzähnen bemerkte?
Ich kam mir urplötzlich ziemlich dämlich vor, als mir einfiel, dass meine Hände deshalb kaum in meine Manteltaschen passten, weil ich meinen Schal und die Handschuhe hineingestopft hatte. Ich zog den Schal hervor und wickelte ihn mir um Hals und Gesicht. Gegen mein Zittern vermochte er nichts auszurichten, doch wenigstens waren so meine Fangzähne nicht sichtbar, wenn sie mir über die Lippen rutschen sollten.
Wir bogen um eine weitere Ecke in eine Straße, die von mehr Geschäften und mehr Einkäufern gesäumt war.
» Sollten wir nicht die U-Bahn nehmen?«, fragte ich und zeigte auf einen Eingang in einer Seitenstraße.
Nathanial schüttelte den Kopf.
» Ich denke, ich soll so schnell wie möglich in den Park kommen.«
» Es ist immer noch früh genug für Pendlerverkehr.« Nathanial deutete auf die anderen Leute auf dem Bürgersteig. » Glaubst du, du kannst mit dem Gedränge der Menschen umgehen, die sich um diese Uhrzeit in einen Zug quetschen?«
Ich warf einen Seitenblick auf einen rundlichen Geschäftsmann, der an uns vorbeihastete. Leichte Beute. Ich krümmte mich innerlich, als mir bewusst wurde, dass ich einen Schritt auf ihn zugetan hatte, um ihm zu folgen. Fest heftete ich den Blick nun auf meine Schuhspitzen und schüttelte den Kopf. Definitiv keine Fahrten in überfüllten U-Bahnen.
Ich bemerkte kaum, wie die hell erleuchteten Häuserfronten der Geschäfte allmählich zu dunkleren Gebäuden verblassten, viele davon mit dicken schmiedeeisernen Gittern versehen, andere mit vernagelten Fassaden. Die ließen wir hinter uns, als die Gebäude höher wurden. Keine Geschäfte oder Schilder mehr, sondern raue Stufen, die in heruntergekommene Apartmenthäuser führten. Hier und da waren die Gehwege nicht geräumt worden, und wir stapften durch matschigen Schnee.
Die Route, die Nathanial uns entlangführte, folgte keiner bestimmten Straße, sondern kürzte durch Seitengassen und Hinterhöfe ab. Ich ging um einen Mann herum, der in einem Karton neben einem Müllcontainer schlief. Der Müllcontainer roch besser als er, also war ich wenigstens nicht in Versuchung, ihn zu beißen. Die hohen Gebäude hörten abrupt auf und endeten in einem leeren Kiesparkplatz und einzeln verstreuten unbebauten Grundstücken. Dahinter schmiegten sich Reihen niedriger Doppelhäuser eng aneinander. Einige Dächer bogen sich unter dem Gewicht des Schnees, die dunklen Fenster blickten auf kleine Vorgärten
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