Kuss der Sünde (German Edition)
rer. Ihre Mutter warf gern beim Lachen den Kopf zurück, damit ein jeder ihren Schwanenhals bewundern konnte. Die Koketterie der beiden konnte regelrecht peinlich werden. Sie zog Pauline die Haare aus dem Mun d winkel.
„Du bist zu groß für diese Märchen, Pauline.“
„Mémé Claude hat eine echte Gabe. Das zweite Gesicht. Die Herrin vom See hat sie ihr vererbt.“
Wenn Großmutter in die Zukunft sehen könnte, hätte sie darauf verzichtet, ihre Enkeltochter in den Sündenpfuhl Paris zurückzuschicken. Zweifelnd runzelte Viviane die Stirn.
„Und ich “ , Pauline nahm die Schultern zurück und drückte den Rücken durch , „ h abe Träume.“
„Träume?“
„Oft träume ich von einem Mann. Ich kenne sein Gesicht, habe aber seinen Namen vergessen. Er sitzt hinter einem Schreibtisch und wirkt … unvorstel l bar traurig. So traurig, dass ich weinen muss. Und er sagt zu einem anderen Mann mit einer Narbe über dem Wangenknochen“, s ie fuhr mit dem Finger über ihren rechten Wangenknochen , „ e r sagt, versündige dich nicht , mein Freund. Was soll aus meinem Sohn werden? Und dann fällt ein Schuss und ich schrecke aus dem Schlaf. Ich kenne den Mann, der erschossen wurde. Ich habe ihn schon hier gesehen, als ich noch sehr klein war. Es hat etwas zu b e deuten, das weiß ich genau.“
„Das ist ein grauenhafter Al b traum , Pauline .“
Viviane schloss die Jüngere in die Arme und zog sie zu sich in die Kissen, nicht wissend, ob sie das Nesthäkchen trösten wollte oder selbst nach Trost suchte. Dieser Traum löste Kälte in ihr aus. Grabeskälte. Sie befeuchtete Daumen und Zeigefinger, streckte den Arm aus und löschte die Nachtkerze.
„Weißt du, Viviane, du könntest bestimmt einen Meisterdieb austricksen. Oder selbst einer werden“, flüsterte Pauline in der Dunkelheit.
Davor möge Gott sie bewahren.
Sie lauschte auf die Atemzüge der kleinen Schwester und fragte sich, was tatsächlich aus ihr werden sollte. Ein Schandfleck der Familie? Eine alte Jun g fer, die sich auf dem Land verkr och ? Die Leiterin eines renommierten Pensi o nats, sofern ihr Vater ihr die Mittel dazu gab? Du bist und bleibst eine Di e bin, wisperte es tief in ihr. U nd niemand würde dafür eine Unze mehr Ve r ständnis aufbringen, wenn sie es auf irgendeine Gabe schob und von Feen im gehei m nisvollen Wald von Brocéliande zu faseln begann.
Retaux de Vilette schien von einem plötzlichen Fieber befallen zu sein, o b wohl er soeben kerngesund auf seinen hohen Absätzen davongestakst war.
Das heftige Rucken seines Kopfs erinnerte an ein Huhn auf der Suche nach einem Korn. Olivier biss sich in die Innenseite der Wange, bemüht, ernst zu bleiben. Dann jedoch streckte der Hänfling den Arm vor und wedelte mit dem Brief. Die Arbeit eines halben Tages.
„Hätte ich nicht zufällig nachgesehen , w ürde ich Ihnen dasselbe unang e brachte Vertrauen entgegenbringen wie Madame de La Motte“, plärrte Vilette und schlug mit dem Handrücken auf das Schriftstück ein. „Das kann uns Kopf und Kragen kosten. Es wird uns hinter Gitter bringen, Brionne!“
Das Papier schli tt erte über die Tischplatte und segelte auf die Dielen. In vorgetäuschter Ruhe hob Olivier das zerknitterte Schreiben auf und legte es auf den Tisch. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden“, presste er zw i schen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Wovon ich rede?“ Die Stimme des Sekretärs kippte. „Sie sind mir ein sa u berer Fälscher, fürwahr. Von Anfang an wusste ich es, aber sie wollte ja unb e dingt einen Handel mit Ihnen eingehen. Er hätte sich aufs Bett beschränken sollen!“
Darum ging es also. Die Eifersucht eines Aufschneiders hatte seine perfekte Fälschung ruiniert. Kurzerhand packte Olivier den kleinen Mann am Kragen und schnürte ihm mit einer Drehung der Faust den Atem ab. „Was genau gibt es an meinem Brief auszusetzen? Er unterscheidet sich durch nichts von den anderen.“
Mit vorquellenden Augen öffnete Vilette den Mund, brachte jedoch keinen Ton heraus. Olivier stieß ihn von sich. Nach Luft schnappend zerrte der and e re an seinem Kragen und sank an die Wand. „Durch nichts, Sie sagen es. Es ist ein Wunder, dass Rohan nach Ihren ersten dilettantischen Versuchen ke i nen Verdacht schöpfte.“ In Erwartung eines Schlages duckte er sich, gleic h wohl hielt er Oliviers wachsender Weißglut stand. „Sie sind ein Dilettant, j a wohl! Ein billiger Gigolo, dem die Unterschrift der Königin fremd ist. Woher sollen
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