Kuss der Sünde (German Edition)
Seite si t zen. Er würde nur halb so viel Platz beanspruchen wie Casserolles. Die G e fahr , durch solche Gedanken ihr Seelenheil zu verlieren, hielt sie für äußerst gering. Sie ging davon aus, dass Gottes Sohn darauf ebenso wenig gab wie auf einst von einem kleinen Mädchen vorgetragene Bitten um Läuterung. Die Erinnerung daran ließ sie den Blick vom Kreuz abwenden. Es war weitaus interessanter , die anderen Kirchenbesucher zu beobachten. Ein rötlicher Haarschopf erregte ihre Aufmerksamkeit und sie reckte den Hals.
„Hast du jemanden entdeckt, der deines Wohlwollens wert ist?“, fragte O n kel Maurice an ihrer anderen Seite.
Sie warf ihm einen ungehaltenen Seitenblick zu. Nachdem ihre Hochzeit mit Casserolles an die Öffentlichkeit gelangt war und im Spätsommer stattfinden sollte, kam jegliches Wohlwollen zu spät. Dennoch hielt sie erneut Ausschau, ohne ihrem Onkel eine Antwort zu gönnen. Lässig an eine Säule gelehnt stand der Vicomte de Belmont, ein sehr auf sein äußeres Erscheinungsbild bedac h ter Mann, der die neueste Mode stets als E rster entdeckte. Seine Arroganz brach sich durch böswillige Lästereien Bahn. Er galt als Glanzpunkt jeder Soiree. Eine Unterhaltung mit ihm war eine Herausforderung, weil er jedes u n bedachte Wort seines Gegenübers dazu nutzte, um Gerüchte in die Welt zu setzen.
Ein Stück weiter entfernt saß ein weiterer begehrter Junggeselle. Sein gel e gentliches Stottern wirkte auf viele Frauen anziehend, da es an schein end mü t terliche Instinkte weckte und gleichzeitig ein Gefühl der Überlegenheit vermi t telte. Sein Sprachfehler hinderte ihn nicht daran, ständig im Schlepptau wec h selnder weiblicher Begleitung aufzukreuzen. Seine Affären waren zu vielfältig, um nicht trotz aller Diskretion bekannt zu werden. Ohne Zweifel würde er als Ehemann diesen Lebenswandel beibehalten. Er bemerkte ihre skeptische Musterung und neigte leicht den Kopf, als hätten sie soeben eine stumme Absprache getroffen. Viviane sah nach unte n . Unter den Herren der feinen Gesellschaft schien keiner geeignet, sie vor ihrem Schicksal zu bewa h ren. Sie führten einzig zu der Einsicht, dass sich ihr die Wahl zwischen Chol e ra und Pest bot.
Wonach sie wirklich Ausschau hielt, während die versammelte Gesellschaft auf Kardinal Rohan wartete, war keine Alternative zu Casserolles, die sie unter den Höflingen ohnehin nicht erwartete. Sie suchte nach einem kastanienbra u nen Schopf. Es war gut möglich, dass Olivier die Messe besuchte. Er konnte kein armer Bürger sein, und alles, was einen gewissen Rang besaß, hatte sich heute in Versailles eingefunden. Sie war somit darauf aus, einen Mann in der Menge zu erspähen, der in ruchlosen Häusern verkehrte. Nun ja, weshalb auch nicht? Bei erster Gelegenheit würde sie durchbrennen und ihren Eltern die Absichten einer Ehe endgültig austreiben. Eine helfende Hand käme ihr dabei gelegen. Welcher Mann könnte sich besser dazu eignen als Olivier? Er sprengte alles ihr Bekannte, womit sich leicht erklären ließ, dass sie ihn nicht vergesse n konnte. Ganze Gespräche hatte sie sich mit diesem ihr fremden Mann schon ausgemalt.
„Willst du mir keinen Anhaltspunkt geben, nach wem du suchst? Vielleicht kann ich behilflich sein“, richtete ihr Onkel erneut das Wort an sie.
„Ich suche niemanden“, beteuerte sie.
Der letzte Ton des Orgelspiels verfing sich in der hohen Kuppel. Das Kna r ren der Sitzbänke, verhaltenes Hüsteln und das endlose Flappen der Fächer ersetzte die Musik. Die Kanzel blieb leer. Alle harrten auf Kardinal Rohan und seine mitreißende Predigt, um derentwillen die Kapelle zu Versa i lles überfüllt war. Flüstern setzte ein. Es wurde rasch zu leisem Geplauder. Aus den A u genwinkeln spähte Viviane zu ihrem Onkel. Sie stand kurz davor, sich ihm anzuvertrauen, als die Menge zu wogen begann. Von der Tür zur Sakristei setzte es sich in einer Welle entlang der Sitzbänke fort. Das zurüc k haltende Raunen schwoll zu einem Stimmengewirr an. Die unverständlichen Wortfe t zen und Silben wiederholten sich.
„Auf Befehl der Königin!“ – „Kardinal Rohan!“ – „Verhaftet!“ – „Der Pol i zeipräfekt hat persönlich …!“ – „… in vollem Ornat abgeführt!“
In der Kirche brach ein Tumult aus. Die einen empörten sich lautstark, die anderen trachteten danach, weitere Details zu erfahren. Wieder andere schü r ten die Gerüchte. Männer stiegen über die Sitzbänke und traten auf die Schleppen der Frauen.
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