Kuss der Sünde (German Edition)
Kommodenschublade würde Ihnen beweisen, dass ich über Streiche hinausgewachsen bin, Papa. Sie ist voll mit Kleinodien. Vor allem Löffel . “
Abrupt erhob er sich und trat ans Fenster. Im Gegenlicht glich er einem grobknochigen Fremden. Sie musterte seinen hageren Nacken und bedauerte, dass sie ihm Kummer bereitete. Er drehte sich zu ihr um.
„Zu behaupten, ich wüsste nichts davon, wäre eine Lüge. Ich kam mit de i ner Mutter überein, dir keine Vorhaltungen zu machen. Das mag ein Fehler gewesen sein, aber sie meinte … ach, es ist gleichgültig, was sie meinte.“
„Mir ist bekannt, was Maman darüber denkt. Es geht auch nicht darum , e i nen Schuldigen zu finden. Bitte erlauben Sie mir, jene Briefe im Palais des Kardinals an mich zu nehmen und Ihnen zu übergeben.“
Er zuckte zusammen, als hätte sie ihm mit dieser Bitte einen herben Schlag versetzt. Energisch schüttelte er den Kopf. „Du bist keine Diebin, Viviane. Du nimmst nichts an dich, um dich zu bereichern. Es ist eine Kran k heit. Ja, das ist es. Eine Krankheit, die ein Arzt behandeln könnte.“
„Papa, ich bin körperlich und geistig kerngesund und besitze ein beachtl i ches Geschick, fremdes Gut an mich zu nehmen, ohne einen Verdacht auf mich zu lenken. Jeder Versuch , es zu unterdrücken, war bisher zum Scheitern verurteilt und ich bin es leid, mich dessen zu rechtfertigen oder gar zu sch ä men. Ob es nun ein Zwang ist oder eine Gabe, wie Maman behauptet , ich muss damit leben.“ Die über Jahre angesammelten Gewissensbisse fielen von ihr ab. Eine schwere Last schien von ihr abzufallen. Sie musste und würde damit leben.
Ihr Vater sank ächzend in seinen Stuhl. Ihr Geständnis drückte ihn auge n scheinlich nieder. „Liebes, deine Mutter entspringt einer exaltierten Familie, doch eine Gabe hat sie es bestimmt nicht genannt. Zudem sprechen wir hier von einem Einbruch. Das ist etwas anderes als gelegentliches Stibitzen.“
Er sollte gelegentlich durch tagtäglich ersetzen, dann käme er den Tats a chen bedeutend näher. „Der Präfekt wird schon dafür sorgen, dass ich ung e stört in das Palais eindringen kann. Schließlich steht das Ansehen der Königin auf dem Spiel. Ich bin eine Pompinelle und kenne die Geschichte unserer Familie. Unser Vorfahr kämpfte mit den Bourbonen, Seite an Seite mit Henri Quatre um die Krone Frankreichs .“ Ihrer Wortwahl fehlte es nicht an Thea t ralik, denn Henri Quatre hatte nie das Schwert ziehen müssen, um diese Kr o ne zu erhalten. „Ich bin eine Untertanin der Krone und habe dasselbe Recht wie Sie, ihr zu dienen.“
Wenig überzeugt von ihrer geballten Faust rieb er über seine Augen. Ihr E n thusiasmus beraubte ihn vermutlich aller Illusionen, aber das konnte sie nicht ändern. „Deine Mutter würde damit nicht einverstanden sein . “
„Wann wäre Maman jemals über Ihre Pflichten in Versailles im Detail i n formiert gewesen ? Bitte, Papa, weisen Sie meine Hilfe nicht ab. Ich weiß g e nau, dass ich es kann.“
„Viviane, dein Bedürfnis in allen Ehren, aber es kommt nicht in f rage , dass du dich einer Gefahr aussetzt. Du bist nicht in der Lage, den ausgetüftelten M e chanismus eines geheimen Fachs zu öffnen.“
„Ich konnte bisher mühelos die Verschlüsse von Schmuckstücken öffnen, die ihren Besitzern direkt auf der Haut liegen. Fragen Sie mich nicht, wie ich es mache, doch ich muss sie lediglich sacht berühren und dann rutschen sie in meine Ärmel, mein Dekolleté oder meine Rocktaschen, bevor ich überhaupt weiß, was geschehen ist. Ein geheimes Fach ist für mich kein Problem.“ Sie wies zur Wand. „Schon mit sechs Jahren habe ich Ihren kleinen Wandtresor dort geöffnet. Ich nehme an, nicht einmal Maman weiß, wo er sich im Tap e tenmuster befindet.“
Er folgte ihrem Fingerzeig. „Du hast ihn gefunden?“
„Sicher, und geöffnet. Soll ich es Ihnen beweisen?“
„Nein . “
„Dann wägen Sie bitte diese Chance gegen das Risiko ab. Vergessen Sie für einen Moment, dass ich Ihre Tochter bin.“
„Ich soll vergessen …“ , stammelte er.
Sie drang nicht weiter in ihn. Innerhalb kürzester Zeit musste er eine Wah r heit verdauen, an der sie selbst viele Jahre gekaut hatte. Wortlos berührte sie seine Schulter und verließ ihn.
Drei Stunden später suchte er sie auf, ging zu der obersten Schublade ihrer Kommode und sah hinein. Seine Miene blieb unergründlich. Er verlor kein Wort über den Inhalt.
Ihre zweite Unterredung fand im Beisein von Monsieur Thiroux
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