Kuss der Wölfin 03 - Die Begegnung
Sam mich an, rieb sich über die Stelle an seinem Arm. Dann ließ er sich auf das Bett sinken und vergrub sein Gesicht in seinen Händen, nur um wenige Augenblicke später wieder aufzustehen und hin und her zu laufen.
„Was zur fucking Hölle ist hier eigentlich los?“ Ich hob die Schultern, berührte ihn am Arm, doch er sah mich nicht an.
„Sam, ich weiß es nicht. Ich kann mir vorstellen, dass uns das nur Andreas beantworten kann.“ Er blieb stehen.
„Dann gehen wir zu ihm und fragen ihn.“
„Wir sehen ihn doch sowieso gleich.“
„Ich will das nicht vor den anderen besprechen. Ich möchte, dass wir Zeit haben, uns mit ihm zu unterhalten. Verflucht Anna! Wenn das so ist, wie du sagst, dann weiß es mein Vater auch. Ist dir das klar?“ Ich nickte. Ja, natürlich war mir das klar. Sam wandte sich ab, zog sein Handy aus der Hosentasche, wählte und hielt es ans Ohr.
„Papa. Wir müssen reden.“
Ich schluckte einen Kloß runter, wusste ich doch, dass Sam gleich eine nicht so schöne Wahrheit erzählt bekommen würde.
„Okay, wir kommen“, sagte er, stand auf und steckte das Handy wieder in die Hosentasche.
Wir fuhren mit dem Fahrstuhl einen Stock tiefer und gingen den Flur nach rechts weiter, bis Sam vor einer Zimmertür stehen blieb. Er klopfte an. Andreas öffnete, hielt ein Handtuch in der Hand, mit dem er sich das Gesicht abtupfte. Er trug kein Hemd, seine Jeans hing locker auf der Hüfte. Für einen älteren Mann sah er echt gut aus, das musste ich wieder einmal feststellen. Es wunderte mich, wieso er keine neue Frau an seiner Seite hatte.
Andreas ging ins Bad. „Nun, Sam. Was gibt es denn so Dringendes?“ Sam straffte die Schultern, holte tief Luft. Ich setzte mich auf den Stuhl vor dem kleinen Schreibtisch.
„Kannst du bitte rauskommen? Es ist wirklich wichtig.“ Ich konnte ins Bad reinsehen und beobachtete, wie Andreas sein Hemd vom Haken nahm, hineinschlüpfte und es beim Hinausgehen zuknöpfte. Dabei blickte er auf die Uhr.
„Gut, wir haben noch Zeit. Setz dich.“
„Ich bleibe lieber stehen.“ Sam strich sich durch die Haare, rieb sich über das stoppelige Kinn und holte erneut tief Luft. „Du kanntest Mamas Mörder“, beschuldigte er seinen Vater. Gespannt blickte ich zu Andreas, dem die Farbe aus dem Gesicht wich. Plötzlich schien er innerhalb von wenigen Sekunden gealtert. Die Mundwinkel hingen hinab, die Furchen in seinem Gesicht waren jetzt deutlich zu sehen. Es war mir auf einmal unangenehm, Zeuge des Gesprächs zu sein, ich wollte Sam aber nicht allein lassen. Meine Anwesenheit war ihm wichtig, sonst hätte er mich sicher nicht mitgenommen.
„Bitte, Sam. Setz dich hin.“ Sam gehorchte und ließ sich aufs Bett sinken.
„Du willst wissen, warum das alles passiert ist?“
Sam nickte. „Wir haben nie darüber geredet. Du hast mich damit allein gelassen.“
Andreas seufzte, schloss kurz die Augen.
„Ich kam sehr früh zu den Venatio. Da war ich so alt wie du, als deine Mutter gestorben ist. Die Linie der Jäger wurde weitervererbt und reicht weit zurück. Die Venatio wurden in England aus einem Druidenorden heraus gegründet, mit dem Ziel, Werwölfe zu töten, die Menschheit zu beschützen. Ein magischer Ring sollte uns im Kampf helfen. Er sollte uns vor ihnen warnen und die Eigenschaften des Trägers verstärken.“ Sam blickte seinen Vater fasziniert an.
„Unsere Familie war von Beginn an festes Mitglied der Venatio. Einst im Orden der Druiden, die Menschen geheilt und beraten haben, wurden wir zu Gründern eines neuen Zirkels, den nicht mal die Druiden selbst kannten. Unsere Familie kommt aus England.“ Andreas hielt inne. Trauer überzog seine Augen.
„Die Blutlinie wurde also fortgeführt. Ich übernahm als kleiner Junge die Rolle des Führers von meinem Vater, als er starb. Ich lernte alles über meine Vergangenheit, hörte mir an, wie unsere Frauen und Kinder von den Wölfen vernichtet worden waren, um den Orden zu schwächen. Aber ich wollte nicht aufgeben. Ich wollte einfach nicht aufgeben …“ Er seufzte.
„Und dann kam er zu mir. Warnte mich. Ich solle aufhören, sie zu jagen, sonst müsse meine Familie sterben“, fuhr er fort. Sam drückte meine Hand noch fester.
„Ich lachte ihn aus, sagte ihm, ich würde niemals aufhören, gegen sie zu kämpfen. Mein eigenes Ego war zu groß. Zu groß, als dass ich meine Familie hätte schützen können.“
„Wer kam zu dir, Andreas? Kanntest du ihn?“, warf ich ein. Er schüttelte den Kopf.
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