Kuss der Wölfin 03 - Die Begegnung
„Nein, er war mir fremd. So wie seine zwei Begleiter. Ich erinnere mich, dass einer davon eine Narbe hatte, die quer über die Wange lief und an der Oberlippe endete.“ Sam sog scharf Luft ein. Er drückte so fest meine Hand, dass ich sie aus seiner Umklammerung zog.
„Utz“, stellte ich fest. „Und dann hast du ihn im Auto wieder erkannt. Es muss Marcus gewesen sein, der zu dir kam.“ Andreas nickte.
„Ich war schuld, dass deine Mutter getötet wurde, Sam. Weil ich nicht aufgeben wollte, nicht auf sie gehört habe. Als sie tot war, konnte ich es nicht ertragen, dich zu sehen, dich um mich zu haben. Ich war erneut egoistisch, reiste in die Schweiz, zum europäischen Sitz der Venatio und wollte aussteigen. Wollte dich beschützen, indem ich selbst kein Venatio mehr war. Vor allem konnte ich nicht in deiner Nähe sein. Meine Trauer um deine Mutter war zu groß, ich konnte dich nicht trösten. Es tut mir leid, Sohn. Es war alles meine Schuld.“ Ich sah zu Sam, der die Lippen fest zusammengepresst hatte, die Augen geschlossen, aus denen dicke Tränen seine Wangen hinab kullerten. Mir zerriss es fast das Herz. Aber Andreas‘ Offenheit kam zu spät.
„Als ich Anna kennenlernte und du mich um Hilfe gebeten hast, beschloss ich, wieder kämpfen. Dich zu beschützen. Ich traute mich nicht, dir die Wahrheit zu sagen. Ich glaubte, sie käme zu spät. Ich hatte all die Jahre geglaubt, es wäre besser, zu schweigen, als mit dir darüber zu reden. Je mehr Zeit verging, desto schwieriger war es.“ Andreas stand auf, setzte sich zu Sam aufs Bett, zog seinen Sohn in die Arme. Sam legte seinen Kopf auf die Schultern seines Vaters und schluchzte hemmungslos. All die Jahre. All die verlorenen Jahre. Andreas streichelte ihm über die Haare, auch er weinte.
„Papa?“
„Was ist?“
„Warum bin ich noch nicht rekrutiert worden?“ Andreas seufzte tief, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und setzte sich zurück auf den Hocker.
„Weil ich darum gebeten habe, dass man dich nicht rekrutiert. Nur unter dieser Bedingung habe ich mich wieder zum Venatio ernennen lassen und die Aufgabe übernommen, den Orden in Deutschland bis zu meinem Tod zu leiten.“ Sam nickte.
„Sam? Es tut mir leid. Ich wollte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.“
„Um wieder genauso zu handeln?“ Sam war nicht wütend. Er schien erleichtert zu sein, endlich mit seinem Vater gesprochen zu haben. Andreas seufzte.
„Danke, Papa, dass du endlich mit mir geredet hast. Ich kann dir nicht sagen, ob ich nicht genau dasselbe gemacht hätte. Aber …“ Er holte tief Luft, „ich war gerade mal zehn Jahre alt. Ich habe nicht verstanden, was los war. Ich hätte dich gebraucht. Dich so gerne an meiner Seite gehabt, damit du mich einfach nur in den Arm nimmst, mich abends ins Bett bringst, mir sagst, dass es Mama gut geht, da wo sie ist. Mich von diesen grauenvollen Bildern befreist, die mich jede Nacht verfolgt haben.“ Eine Träne rollte ihm über die Wange.
„Junge, ich … es tut mir leid. So schrecklich leid.“
„Bitte, Papa. Lass mich das erst alles verdauen. Es hat geholfen, dass wir endlich darüber gesprochen haben. Aber ich muss erst damit klar werden, okay?“
„Ja. Das verstehe ich, Sam.“
Es würde heilen. Die Wunden würden heilen. Es würde lange dauern und Sam und auch sein Vater würden deutliche Narben behalten, aber mit der Zeit würde es nicht mehr so sehr schmerzen.
In meiner Jeans vibrierte es einmal kurz. Eine SMS. Mit klopfenden Herzen zog ich das Handy aus der Hose.
Schön, dass du in New York bist
Ich kann dir ein paar Tipps geben
Wir sehen uns …
Sam und Andreas sahen mich erwartungsvoll an. Ich nickte und hielt ihnen das Handy hin.
Kapitel 36
New York, Herbst 2012
«Kein Wunder, die gute Verkäuferin blutet.»
Marcus drückte auf Senden und stieg auf die Klobrille, klopfte gegen ein viereckiges Metallteil und schob es zur Seite. Wie auf der Toilette am Flughafen verstaute er auch hier das Handy, das er auf lautlos gestellt hatte. Sorgfältig deckte er das Loch wieder zu, sprang vom Klo und verließ die Kabine. Utz stand an der Tür und hielt Wache, als Marcus zu ihm nach draußen trat.
„Coole Idee, so früh hierher zu kommen. Kaum was los hier oben.“ Sie sahen sich um. Außer ein paar Touristen, die mit der Kamera ein Bild nach dem anderen knipsten, standen ein paar Wachleute an den Ausgängen und eine Verkäuferin sortierte gerade die Postkarten.
„Ja. Lass uns gehen. Ich habe
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