Kuss des Apollo
Der Wind hatte auf West gedreht, es würde vermutlich morgen regnen. Sie hatte ein Gespür für Wetter, sie stammte von der Insel Sylt und erkannte jede Windrichtung und was daraus folgen würde, sogar hier in Dahlem.
Sie ließ sich einen Cognac von Evi einschenken und beschloss, etwas Tempo in das Gespräch zu bringen.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, wart ihr beide«, Blick zu Geraldine, Blick zu Sebastian, »damals zusammen am Theater, und wenn ich es weiter richtig verstanden habe, spielten sie an diesem Theater den
Amphitryon
. Den von Kleist?«
Sebastian nickte. »Natürlich hatte ich das Stück früher mal gelesen, es hatte mich nicht weiter beeindruckt, aber auf der Bühne ärgerte es mich.«
»Und Sie haben die Alkmene gespielt, Geraldine?«
»Gott bewahre«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Nicht mal die Charis. Ich war eine von den Mägden, die im Hof herumsaßen. Vier waren wir im Ganzen, das Ensemble war klein. Auch wenn man für richtige Rollen engagiert war, musste man Statisterie machen, das ging gar nicht anders.«
Immerhin, dachte Jana, so viel auf einmal hat sie bisher nicht gesprochen.
»Und die Aufführung gefiel euch nicht.«
»Die Aufführung war mittelmäßig, klar«, sagte Sebastian. »Aber es ist vor allem das Stück, das mir nicht gefällt. Wenn Kleist sich schon darüber hermacht und es Molière nachschreibt, dann hätte er sich etwas Neues und vor allem Besseres dazu einfallen lassen können. Wenn Zeus vom Olymp herabsteigt, um wieder einmal eine Erdenfrau zu vernaschen, diesmal nicht als Schwan oder als Stier oder in welchen Verkleidungen er sich die Frauen sonst noch nimmt, die ihm gefallen, warum kommt er zu der Frau in der Gestalt ihres Mannes? Warum sieht er aus wie Amphitryon, warum benimmt er sich wie Amphitryon, warum redet er wie Amphitryon, obwohl er nicht Amphitryon ist? Das nenne ich eben Betrug. Wenn er dann wenigstens stillschweigend wieder verschwinden würde, wenn er seine Liebesnacht mit Alkmene aus ihrem Gedächtnis löschen würde, mit einem Kuss oder wie auch immer, schließlich ist er ja ein Gott, dann hätte man das noch verzeihen können. Aber nein. Er muss unbedingt in der Figur des Amphitryon auftreten. Und das klappt auf der Bühne sowieso nicht.«
»Das kann ja auch nicht klappen«, sagte Frobenius. »Man müsste dazu ein Zwillingspaar im Ensemble haben. Es klappt auch an großen Bühnen nicht. Darum hat ein Film seine Reize, weil da beide Rollen vom selben Mann gespielt werden können.«
»Hm, das ist wahr, ich bin da ganz Ihrer Meinung, Herr Klose«, sagte Will. »Warum lässt Kleist ihn nicht einfach stillschweigend verschwinden? Und Alkmene könnte es vergessen haben, wenn ihr Mann dann wirklich vom Schlachtfeld nach Hause kommt.«
»Das kann ich euch genau erklären«, sagte Jana. »Weil dann der große Knall ausfallen würde samt der Wolke, in der Zeus auf den Olymp verschwindet.«
Evi, die wie angenagelt mit der Cognacflasche hinter Jana stand, sagte traurig: »Ich kenne die Geschichte nicht. Wir haben das in der Schule nicht gelernt. Aber ich bin ja auch nur in eine einfache Schule gegangen.«
Jana lachte, drehte sich um und nahm ihr die Flasche aus der Hand.
»Bestimmt habt ihr das in der DDR nicht in der Schule gelernt, und ich bezweifle, ob es heute in unseren Schulen auf dem Lehrplan steht. Setz dich, Evi. Ich erzähle dir die Geschichte kurz.«
Frobenius nickte. Jana war wie immer die Klügste. So kam man ganz klar auf den Stoff, ohne sich noch länger damit aufzuhalten, was die verschiedenen Dichter falsch gemacht hatten. »Das ist griechische Mythologie«, erklärte Jana. »Und die ist bei den alten Griechen mit der Historie vermischt. Möglicherweise hat es einen Amphitryon gegeben, er war König von Theben, Herrscher von Theben, vielleicht auch nur der Feldherr, der in den Krieg zog, in einen der vielen Kriege, die sie ununterbrochen führten, und in diesem, um den es hier geht, war er der Sieger. In den Lexika jedenfalls steht sein Name. Das ist wie mit dem Trojanischen Krieg. Wir wissen, dass er stattgefunden hat, das beweisen die Ausgrabungen. Aber er hat bestimmt nicht auf die Weise angefangen, wie Homer es beschreibt, genau wie sich die lange Heimreise des Odysseus nicht so abgespielt hat, wie er es erzählt.«
Jana unterbrach sich, trank von ihrem Cognac. Das war das Verteufelte mit diesen griechischen Sagen, man geriet immer von einem ins andere. »Also, die Sache war so, Amphitryon war ein Feldherr, der in den
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