Kuss des Apollo
»Wäre ich sonst mit ihm hier?«
»Immer dasselbe«, sagte Jörg und schlenkerte ihre Hand weg.
»Er nimmt mir die Mädchen, die mir gefallen, immer weg.«
»Du kannst doch gar nicht wissen, ob sie dir gefällt. Und noch weniger, ob du ihr gefällst. Ihr kennt euch erst seit drei Stunden.«
»Genügt doch für einen intelligenten Menschen.«
Eine halbe Stunde später waren sie wieder im Haus, alles war ruhig und friedlich. Frau Holm war schon schlafen gegangen. Geraldine, von den Brüdern geküsst, lachte, als sie sich das Gesicht für die Nacht einkremte. Das war wirklich eine neue Art von Leben, der Umgang mit jungen Leuten. Auch mit den Freunden von Alexander kam sie gut aus. Hier musste sie nicht Regie führen, musste sich kein Drehbuch ausdenken, alles ergab sich von selbst, eine Szene folgte der anderen, ohne dass man sie probieren musste.
Auch der Gedanke an ihren Vater, an sein neues Leben, war nicht mehr so quälend. Nur manchmal dachte sie darüber nach, wie es weitergehen sollte. Würde sie mit ihrem Vater zusammenbleiben? Vielleicht in einer größeren Wohnung? Oder in einem Haus?
Es erschien ihr in keiner Weise verlockend. Sie fürchtete sich vor einer Veränderung. Weil sich so viel verändert hatte, was sie nicht verstand. Und was ihr ständig Angst machte.
Irgendetwas würde geschehen. So wie es angefangen hatte, würde es aufhören.
Und dann?
Noch immer passte sie auf. Blickte auf, wenn jemand ins Restaurant kam. Nur machte sie es unauffälliger, damit es Alexander nicht mehr bemerkte.
Seit Paris hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Hatte er sie vergessen?
An einem hellen Abend saß sie mit Nelson am Watt, den Arm um seinen Hals gelegt. Er saß ganz ruhig und hörte ihr zu.
»Das ist ein ganz fremdes Meer für ihn. Hierher kommt er sicher nicht. Wenn ich nach Griechenland fahren würde, meinst du, dort käme er plötzlich auf mich zu? Aber in Paris war er schließlich auch. Und in Wien. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Was aus mir werden soll. Mein Leben ist so seltsam, Nelson. Es ist, als balanciere ich auf einem dünnen Seil. Wenn es reißt, falle ich ins Bodenlose. Niemand weiß, wie das ist. Ich kann es auch nicht in Worte fassen. Ich verstehe es ja selbst nicht. Ich habe Angst, Nelson. Die Angst ist so groß wie die Wellen in diesem Meer. Sie bringen mich zu Fall. Und dann gehe ich unter. Komme nicht mehr nach oben. Niemand weiß, wie es in mir aussieht. Verstehst du es wenigstens, Nelson?«
Nelson saß still, den Kopf an ihre Schulter geschmiegt. »Du bist der einzige Freund, den ich habe. Niemand gehört zu mir. Auch mein Vater nicht mehr. Ich bin allein, Nelson. So allein wie nie zuvor.«
Als sie zurückkam, saßen Alexander und Jörg auf dem grasbewachsenen Wall vor dem Haus, obwohl die Oma das streng verboten hatte.
»Wo steckst du denn?«, so Alexander.
»Wo treibst du dich herum?«, so Jörg.
»Das seht ihr doch, ich war mit Nelson spazieren.«
Jörg seufzte. »Wir sind heute nach Archsum gelaufen und wieder zurück. Das ist doch gerademan genug geloofen.«
»Wir waren auch nur ein kleines Stück am Watt entlang. Es liegt immer noch die Sonne darauf. Das Wasser ist lila und grün und blau, ein wenig grau dazwischen. Und auch silbern. Alles durcheinander.«
»Na ja, schon, das kennen wir alles«, sagte Jörg. »Gehen wir noch was trinken?«
»Ihr sollt doch nicht auf dem Wall sitzen. Wenn eure Großmutter das sieht, wird sie schimpfen.«
»Erstens sitzen wir ganz ruhig, und zweitens ist sie nicht da.«
»Wo ist sie denn?«
»Bei ihrer Freundin Traudl. Sie muss Traudls neues Enkelkind bewundern. Und sie bringt uns Frühstückseier mit.«
Eier gab es jeden Morgen, und Geraldine seufzte manchmal, unüberhörbar natürlich. Jeden Morgen ein Ei zu essen, war sie nicht gewohnt. Aber so frisch wie von Traudls Hühnern gab es sie auf der ganzen Welt nicht mehr, das musste sie sich immer wieder anhören.
Sie hatte wirklich ein wenig zugenommen, nicht viel, denn ordentlich essen konnte sie immer noch nicht.
»Ich schlage vor, wir gehen in die Kate, essen jungen Matjes und trinken ein Bier dazu. Und wenn du ordentlich aufisst, Geraldine, spendiere ich dir einen Juvi.«
»Aber wir haben doch vorhin erst gegessen.«
»Das ist zwei Stunden her und war bloß ein Käsebrot. Und jungen Matjes muss man essen, solange es ihn gibt.«
Welch wichtige Rolle der junge Matjes spielte, hatte sie auch gelernt. Natürlich kannte sie Matjes, ihr Vater servierte ihn ab und zu, aber
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